Alcoholics Anonymous selbst behauptet eine Erfolgsquote von 75 Prozent. Während des ersten Vierteljahrhunderts seines Bestehens war A.A. fast alleine darin, Auswertungen seiner Effizienz zur Schau zu stellen, die jedoch von Medizinern weitgehend unhinterfragt akzeptiert wurden[ vgl. Leach 1973, S 247]. Zumindest ab den sechziger Jahren, als erstmals öffentliche Kritik an Alcoholics Anonymous laut wurde, mehrten sich Stimmen, die forderten, die Effektivität von A.A. wissenschaftlich zu dokumentieren und die zum Teil Alcoholics Anonymous verdächtigten, eine empirische Nachprüfung aktiv zu behindern.[ vgl. Alford 1980, S 359]
So herrscht weithin Uneinigkeit darüber, wieviel Alkohol eine Person trinken muß, welche alkoholbezogenen Probleme sie erfahren haben muß (oder was auch immer sonst als Kriterium herangezogen wird) um als "Alkoholiker" zu gelten. Insbesondere im Zusammenhang mit der Auswertung von Behandlungsprogrammen stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien überhaupt zu messen ist, ob die Behandlung erfolgreich war oder nicht. Auch hier tut sich eine enorme Spannweite auf. Zum Teil wird die Auswertung rein auf die durchschnittliche Menge des Alkoholkonsum pro Tag, Monat, oder während des Nachfolgezeitraums bezogen, manchmal auch nur völlige Abstinenz als Erfolg betrachtet; andere Studien beziehen sich auf den längsten Zeitraum der Abstinenz, wieder andere stützen sich auf das allgemeine soziale Funktionieren und die Abwesenheit alkoholbezogener Probleme.
Diese Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen. Zusammengenommen heißt das, daß die Ergebnisse verschiedener Studien über A.A., oder Alkoholismustherapie im allgemeinen, nur sehr schwer miteinander vergleichbar sind. Über diese allgemeinen Probleme hinaus stellen sich bei der Erforschung von Alcoholics Anonymous noch einige spezifische Probleme, die in der Struktur dieser Organisation begründet sind.
Da es keine formale Regelung der Mitgliedschaft in Alcoholics Anonymous, z.B. durch Mitgliederlisten, gibt, besteht schon in der grundlegenden Frage, wer überhaupt als Mitglied der Organisation zu betrachten ist, weitgehend Uneinigkeit. Die Angliederung an A.A. kann definiert werden als Besuch einer bestimmten Anzahl von Meetings, als Aufrechterhaltung des Engagements in der Organisation über eine bestimmten Zeitraum hinweg oder einfach als persönliche Identifikation mit A.A.[ vgl. McCrady/Irvine 1989, S 154] Darüber hinaus erlaubt die Anonymität der A.A.-Mitglieder natürlich auch nicht die Anwendung zeitgemäßer Sampling-Techniken (Zufallszuweisung zu verschiedenen Gruppen, Vortest zum Feststellen der Basislinie etc.)[ ib., S 155].
Deshalb ist die Zusammensetzung jedes Samples von A.A.-Mitgliedern in erster Linie durch die Selbstselektionsmechanismen innerhalb der Organisation bestimmt. So werden z.B. die starken Sanktionen gegenüber fortgesetztem Trinken unweigerlich zu einer Überrepräsentierung derer führen, die sich an das Abstinenzgebot halten[ vgl. Bebbington 1976, S 574]. Ein anderes, vor allem bei eher qualitativ orientierten Forschungsmethoden auftretendes Problem ist, daß bedingt durch eine ausgeprägte Tendenz der Mitglieder, ihre Vergangenheit retrospektiv im Sinne des Weltbildes von A.A. zu reinterpretieren, jegliche Angaben über die persönliche Biographie notorisch unzuverlässig sind[ vgl. Boscarino 1977, S 154].
Aus all diesen methodischen Problemen nun zu schließen, eine wissenschaftliche Erforschung von A.A. sei schlichtweg unmöglich und deshalb Zeitverschwendung, wie dies z.B. Bebbington tut[ vgl. Bebbington 1976, S 572], heißt meines Erachtens, das Kind mit dem Bade auszuschütten, da die von ihm stattdessen beschworene "klinische Erfahrung" erst recht mit beträchtlichen Verzerrungen belastet ist[ vgl. Armor/Polich/Stambul 1976, S 127] und deshalb keine Alternative darstellt. Aus diesem Grunde werde ich im folgenden einen Überblick über die empirische Forschung bezüglich der Effizienz von Alcoholics Anonymous geben, auch wenn diese problembehaftet ist und zum Teil zu widersprüchlichen Ergebnissen kommt.
Die sogenannten "Rand-Reports"[ Armor/Polich/Stambul 1976 sowie Polich/Armor/Braiker 1980] waren hauptsächlich darauf angelegt gewesen, in mehreren Nachuntersuchungen die langfristigen Behandlungsergebnisse von 45 Behandlungszentren des National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism auszuwerten (NIAAA). Dabei wurde jedoch eine Vielzahl von demographischen, sozialen und psychologischen Variablen erhoben und auch die Entwicklung von Personen weiterverfolgt, die lediglich einmaligen Kontakt mit der Behandlungseinrichtung hatten, so daß auch aufschlußreiche Ergebnisse über weitergehende Fragestellungen gewonnen wurden.
Unter anderem zeigte sich, daß bei der Nachuntersuchung diejenigen, die (abgesehen von einem einmaligen Kontakt) nicht behandelt worden waren aber regelmäßig A.A. besucht hatten, fast so gut abschnitten wie die, die in Behandlung gewesen waren.[ vgl. Armor/Polich/Stambul 1976, S 134] Dieses Ergebnis hatte auch in der vier Jahre später stattfindenden zweiten Nachuntersuchung Bestand[ vgl. Polich/Armor/Braiker 1980, S 179]. Allerdings zeigten ebenfalls in beiden Untersuchungen unregelmäßige A.A.-Besucher die höchste Rate von alkoholbezogenen Problemen[ vgl. Armor/Polich/Stambul 1976, S 131 und Polich/Armor/Braiker 1980, S 179]
Andererseits jedoch zeigte eine von Ogborne/Bornet durchgeführte Neuanalyse der den "Rand-Reports" zugrundeliegenden Daten auch, daß feste A.A.-Mitglieder die nicht abstinent blieben unter schwereren körperlichen und anderen Konsequenzen leiden als die, die A.A. weniger häufig besuchen[ vgl. Ogborne/Bornet 1982]
Eine der wenigen Studien, die versucht hat, die Behandlungsergebnisse verschiedener Typen von Psychotherapie mit Alkoholabhängigen in einem experimentellen Forschungsdesign festzustellen stammt von Brandsma et al.[ Brandsma/Maultsby/Welsh 1980]. Dabei wurden die Subjekte zufällig vier verschiedenen Therapiegruppen (darunter Alcoholics Anonymous) bzw. einer unbehandelten Kontrollgruppe zugewiesen. Alle Therapiegruppen schnitten besser ab als die Kontrollgruppe und unterschieden sich untereinander kaum im Behandlungsergebnis. Alcoholics Anonymous hatte allerdings die höchste drop-out-Rate. Von Verfechtern von A.A. wird kritisiert, daß die Ergebnisse der A.A.-Gruppe deshalb nicht besser waren, weil es sich um unfreiwillige Subjekte handelte und A.A. als Selbsthilfegruppe mit Freiwilligen besser abschneide[ vgl. McCrady/Irvine 1989, S 166].
Linda Farris-Kurtz untersuchte 158 der 274 Personen, die während der 5 Jahre davor in einer programmatisch an Alcoholics Anonymous orientierten Übergangseinrichtung betreut worden waren. Dabei fand sie eine signifikante Beziehung zwischen der Dauer des Aufenthaltes und dem Engagement in A.A. einerseits und Abstinenz von psychoaktiven Substanzen andererseits[ vgl. Farris-Kurtz 1981]. Anzumerken ist allerdings, daß insbesondere das verwendete Erfolgskriterium (selbstberichtete Abstinenz egal welcher Dauer zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung) ziemlich wenig aussagekräftig scheint .
900 Patienten von verschiedenen an Alcoholics Anonymous orientierten Alkoholismus-Behandlungsprogrammen wurden von Hoffman et al. einer Nachuntersuchung unterzogen[ vgl. Hoffman/Harrison/Belille 1983]. Dabei zeigte sich eine hohe Korrelation zwischen der Häufigkeit des Besuchs von A.A.-Meetings und der längsten Zeit der Nüchternheit. Allerdings ist zum einen angesichts der Ergebnisse der "Rand-Reports"[ Armor/Polich/Stambul 1976 sowie Polich/Armor/Braiker 1980] zu bezweifeln, ob die Follow-up-Periode von 6 Monaten lang genug ist und zum anderen zumindest unklar, welche Aussagekraft das gewählte Erfolgskriterium der längsten Zeit der Abstinenz hat.
Williams et al. baten 36 wegen Alkoholproblemen in einem staatlichen Behandlungsprogramm aufgenommene Personen, die sowohl A.A. als auch die ambulante Nachsorge besucht hatten zu bewerten, wie hilfreich A.A. bzw. ambulante Beratung für die Aufrechterhaltung der Nüchternheit waren. Diejenigen mit einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Abstinenztagen bewerteten A.A. höher[ Williams/Stout/Erickson 1986]. Angesichts der sehr geringen Sample-Größe und der ziemlich vagen Fragestellung läßt dieses Ergebnis jedoch keinerlei Schlußfolgerungen zu.
In einer Studie von Mary Sheeren wurden 59 A.A.- Mitglieder gebeten, einen Fragebogen auszufüllen um das Auftreten von Rückfällen und seine Beziehung zum Maß des Engagements im A.A.-Programm einzuschätzen. Die Rückfälligen bewerteten sich niedriger in jeder aufgeführten Kategorie von Engagement.[ vgl. Sheeren 1988] Ob dieses Ergebnis tatsächlich darauf hindeutet, daß weniger engagierte A.A.-Mitglieder häufiger Rückfälle haben muß jedoch erheblich bezweifelt werden. Einer der Glaubenssätze von A.A. ist, daß nachlassendes Engagement unweigerlich zu Rückfällen führt. Wenn A.A.-Mitglieder, die kürzlich einen Rückfall hatten, dies nachträglich dem mangelnden Engagement zuschreiben so deutet dies wahrscheinlicher gerade darauf hin, daß sie die Ideologie von Alcoholics Anonymous verinnerlicht haben.
Seixas et al. prüften in einem Gefängnis bei 102 Insassen den Zusammenhang zwischen A.A.-Besuch und Nachfolgestatus nach einem Jahr[ Seixas/Washburn/Eisen 1988]. Die schwersten Alkoholiker erwiesen sich als die besten A.A.-Besucher. Die Hypothese, der A.A.-Besuch beeinflusse den Status bei der Nachuntersuchung konnte nicht bestätigt werden.
In einer verhaltensorientierten Alkoholismus-Therapieeinrichtung untersuchten McLatchie/ Lomp 173 aufeinanderfolgend aufgenommene Klienten bezüglich A.A.-Besuch vor oder nach der Behandlung, demographischen und psychometrischen Merkmalen und dem Behandlungserfolg[ McLatchie/Lomp 1988]. Diejenigen, die schon vor der Aufnahme Kontakt zu A.A. gehabt hatten, zeigten tendenziell schwerere Trinkprobleme. Im Behandlungserfolg waren grundsätzlich keine Unterschiede bezüglich A.A.-Besuchern und Nicht-Besuchern festzustellen. Jedoch zeigte sich, daß unregelmäßige Besucher von A.A. eine bedeutend schlechtere Prognose haben als regelmäßige Besucher oder Nicht-Besucher.
Insgesamt läßt sich feststellen, daß angesichts der enormen Verbreitung, die Alcoholics Anonymous als Behandlungsmodalität gefunden hat, nach wie vor nur verblüffend selten versucht wurde, die Wirksamkeit von A.A. einer wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen. Darüber hinaus weisen viele dieser Studien methodische Mängel auf, so daß die Gültigkeit der Ergebnisse zu bezweifeln ist.
Auch kommen die Studien zu widersprüchlichen Ergebnissen: einige Untersuchungen stellen eine Korrelation zwischen A.A.-Besuch und Abstinenz fest, andere nicht. Im Vergleich zu anderen Formen von Alkoholismustherapie erwies sich A.A. zumindest nicht als überlegen, manchmal als unterlegen. Ein Phänomen, das in allen Untersuchungen in denen dies überprüft wurde auftrat ist, daß unregelmäßige Besucher von Alcoholics Anonymous schlechtere Ergebnisse zeigen als regelmäßige Besucher oder Personen, die A.A. überhaupt nicht besuchen. Alles in allem muß festgestellt werden, daß der derzeitige Stand der Forschung eine wissenschaftlich abgesicherte Antwort auf die Frage, ob und in welchem Maße A.A. "funktioniert" leider nicht erlaubt.
Diese Hypothese wird auch durch die Beobachtung gestützt, daß diejenigen Problemtrinker, die unregelmäßig A.A.-Meetings besuchen, die schlechtesten Ergebnisse zeigen. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich hierbei um Menschen handelt, die zwar unter Alkoholproblemen leiden und deshalb Hilfe suchen, denen es aber andererseits, aus welchen Gründen auch immer, nicht vollständig gelingt, sich mit A.A. und deren Ideologie zu identifizieren und eine stabile Angliederung an diese Organisation aufzubauen[ vgl. McLatchie/Lomp 1988, S 323].
Wie schon besprochen ist A.A. in den U.S.A. im Bewußtsein der Öffentlichkeit die einzige klar wahrgenommene Hilfequelle bei Alkoholproblemen und auch Grundlage der Mehrzahl aller professionellen Therapieprogramme. Für Menschen, die wegen Alkoholproblemen Hilfe suchen führt deshalb kaum ein Weg an A.A. vorbei.
Dabei scheint es, daß bei weitem die Mehrheit all derer, die Kontakt zu Alcoholics Anonymous aufnehmen die Organisation schon recht bald wieder verlassen. Brandsma et al. stellten fest, daß A.A. die höchste drop-out-Rate aller untersuchten Therapierichtungen hat[ vgl. Brandsma/Maultsby/Welsh 1980]. Selbst A.A.-Befürworter schätzen, daß höchstens 30% derer, die zum ersten Mal ein Treffen von Alcoholics Anonymous besuchen auch dabeibleiben[ vgl. Tournier 1979, S 745]. Diese Schätzung dürfte noch ziemlich hoch gegriffen sein. So stellten z.B. Ludwig et. al in der Auswertung eines Behandlungsprogrammes fest, daß während der ersten drei Monate nach der Behandlung ungefähr die Hälfte des Samples A.A.-Treffen besuchte, eine Rate, die während der folgenden 9 Monate beständig sank. Dabei waren zu jedem Zeitpunkt nur 20-30% regelmäßige Besucher[ zit. n. Brandsma/Maultsby/Welsh 1980, S 12].
Die Ideologie von Alcoholics Anonymous enthält in der Tat einige Elemente, die dazu führen könnten, daß Problemtrinker, denen die Angliederung an A.A. nicht gelingt schlechtere Aussichten haben als die, die überhaupt keinen Kontakt zu Alcoholics Anonymous hatten. So ist beispielsweise im "Big Book" von Alcoholics Anonymous zu lesen:
Selten haben wir eine Person versagen gesehen, die gewissenhaft unserem Weg folgte. Die, die nicht genesen sind Menschen, die sich diesem einfachen Programm nicht vollständig anvertrauen können oder wollen, üblicherweise Männer und Frauen, die von ihrer Veranlagung her unfähig sind, mit sich selber vollkommen ehrlich zu sein. Es gibt solche Unglückliche. Es ist nicht deren Fehler; sie scheinen so zur Welt gekommen zu sein.[ Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1953, S 58]In der Ideologie von Alcoholics Anonymous ist Alkoholismus eine unheilbare Krankheit; das einzige, das die Krankheit zum Stillstand bringen kann ist das "einfache spirituelle Programm der Genesung" von A.A.. Wenn dieses Programm nicht zum Erfolg führt, dann entweder aus Willensschwäche, oder gar aus unabänderlichen biologischen Gründen. Dies kann bei Problemtrinkern, denen es nicht gelingt, sich dauerhaft A.A. anzuschließen durchaus zu der Überzeugung führen, einfach ein "hoffnungsloser Fall" zu sein.
Die Entdeckung, daß A.A.-Mitglieder die rückfällig werden offensichtlich schwerere Rückfälle haben als Nicht-Mitglieder[ vgl. Ogborne/Bornet 1982] deutet auf einen weiteren Bereich hin, in dem die Ideologie von Alcoholics Anonymous zumindest auf die, bei denen sie nicht zur Nüchternheit führt negative Auswirkungen haben kann. Alkoholismus wird als Krankheit beschrieben, die menschlichem Einfluß weitgehend entzogen ist. Insbesondere ist der Alkoholiker im Rahmen dieses Modells nach Aufnahme auch nur der geringsten Alkoholmenge völlig machtlos gegenüber weiterem Trinken. Es ist leicht denkbar, daß dies als sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken könnte.
Dies umso mehr, als der Status innerhalb von A.A. in erster Linie von der Dauer der "Nüchternheit" abhängt. Wer nach 10 Jahren A.A.-Mitgliedschaft und Abstinenz auch nur ein Bier trinkt, findet sich auf der gleichen Stufe wie ein Neuling wieder (vorausgesetzt es wird bekannt); eine anschließende Trinkepisode von 3 Wochen ändert an diesem sozialen Abstieg nichts mehr.
Rückfälle lassen sich wahrscheinlich nicht ganz ausschließen. Deshalb deutet vieles daraufhin, daß für die längerfristige Aufrechterhaltung der Abstinenz die Frage, wie mit Rückfällen umgegangen wird wichtiger sein könnte als die bloße Vermeidung von Rückfällen[ vgl. z.B. Marlatt 1978 sowie Marlatt/Gordon 1980]. Wenn sich ein Individuum zu einer ausgedehnten oder unbegrenzten Periode der Abstinenz von einem bestimmten Verhalten verpflichtet hat und dieses Verhalten dennoch auftritt kommt es zum "Abstinenzverletzungs-Effekt", einem Zustand kognitiver Dissonanz, geprägt von Schuldgefühlen darüber, der Versuchung erlegen zu sein:
Wenn der Rückfall als persönliches Versagen (...) betrachtet wird, wird sich die Erwartung von fortgesetztem Versagen als Resultat vergrößern. Die Erwartung von Versagen wird wahrscheinlich die tatsächliche Leistung vermindern. Wenn sich jemand willensschwach und machtlos fühlt, weil er sich dem ersten Drink ergeben hat, ist die Erwartung, dem zweiten oder dritten Drink zu widerstehen entsprechend geringer: "Einmal ein Säufer, immer ein Säufer". Aus dieser Perspektive ist Kontrollverlust großteils durch die Wahrnehmung des Alkoholikers bestimmt, die "Kontrolle verloren" zu haben als der Rückfall begann.[ Marlatt 1978, S 299]Die Intensität dieses Abstinenzverletzungseffekts ist abhängig von der Länge der Abstinenz und dem Stellenwert für das Individuum[ ib., S 297]. Angesichts der Betonung totaler Abstinenz in Alcoholics Anonymous und dem zentralen Rang, den die Nüchternheit in der Selbstdefinition des Mitgliedes einnimmt ist zu vermuten, daß der Abstinenzverletzungseffekt bei rückfälligen A.A.-Mitgliedern besonders ausgeprägt sein dürfte; angesichts des subjektiv erlebten Kontrollverlustes ist die Wahrscheinlichkeit dann hoch, daß jeder "Ausrutscher" sich zu einem ausgewachsenen Rückfall entwickelt.
Rückfälle sind in gewissem Sinne funktionaler Bestandteil der Dynamik von Alcoholics Anonymous. A.A.-Mitglieder erwähnen häufig Umstände und Verhaltensweisen, die, um Rückfälle zu vermeiden, vermieden werden müssen. Dazu gehören Depression, Eifersucht, Erschöpfung, Liebesaffären, Streit mit Freunden, mangelnde Aufmerksamkeit bei AA-Treffen, das AA-Programm nicht befolgen, das Programm kritisieren, unehrlich sein, zu besorgt über finanzielle oder andere Probleme sein, zu glücklich oder übermütig sein, schlechte Noten oder Versagen wenn gute Noten oder Erfolg erwartet werden, sich an alte Trinkerlebnisse erinnern, Versagen, fragwürdige Personen, Plätze oder Leute zu vermeiden, und nicht genug AA-Treffen zu besuchen.[ vgl. Rudy 1980, S 729]
Insgesamt wird so eine normative Struktur geschaffen, zu der sich völlig konform zu verhalten fast unmöglich ist[ vgl. ib., D 730]. Tritt ein Rückfall auf, so verstärkt diese Devianz die Gruppengrenzen, indem sie den Gegensatz zwischen "richtigem" und abweichendem Verhalten betont und die Norm der Nüchternheit sowie die Normen, die vor dem Rückfall verletzt wurden bekräftigt.[ vgl. ib., S 728]