Die Häufigkeit von Alkoholproblemen und diagnostiziertem Alkoholismus unter verschiedenen sozialen Gruppen ist bemerkenswert unterschiedlich. Dabei scheint diese Verteilung stärker mit einigen demographischen Variablen zusammenzuhängen als mit physiologischen oder psychologischen Unterschieden. Aufschluß über Häufigkeit und Verteilung von Alkoholkonsum und alkoholbezogenen Problemen erbrachten hauptsächlich die Umfragen über das Trinkverhalten der Amerikaner von Cahalan et al. Folgende Faktoren erwiesen sich darin hauptsächlich als mit schwerem Trinken und alkoholbezogenen Problemen korreliert:
Es zeigt sich ebenfalls, daß viele der Beobachtungen in klarem Widerspruch zum Krankheitskonzept stehen. Zwar wird in den Cahalan-Studien das Trinkverhalten einer "normalen", also nicht institutionalisierten, Population analysiert und auch nicht explizit die Kategorie Alkoholismus, sondern der Alkoholverbrauch und die Häufigkeit alkoholbezogener Probleme als Maßstab benutzt[ vgl. Cahalan 1970, S 135], doch sind in diesen Kategorien auch die meisten "Alkoholiker" erfaßt. In der Praxis gibt es ohnehin kaum eine Möglichkeit, zwischen "echten Alkoholikern" und "Problemtrinkern", also schweren Trinkern, die alkoholbezogene Probleme haben, zu unterscheiden[ vgl. Fappiano 1983, S 2].
Insbesondere die Entdeckung, daß mit steigendem Alter Alkoholkonsum und Auftreten von Alkoholproblemen zurückgehen steht in klarem Widerspruch zum Alkoholismusmodell von A.A. Zwar wurde, da die Cahalan-Studien nur Momentaufnahmen zu verschiedenen Zeitpunkten darstellen, spekuliert, ob diese Beobachtung vielleicht das Resultat von Generationsunterschieden und nicht das individueller Entwicklung sein könnte, doch wurde der grundsätzliche Trend in mehreren anderen Erhebungen bestätigt[ vgl. U.S. Department of Health, Education and Welfare 1974, sowie U.S. Department of Health and Human Services 1987 und 1990].
Auch zahlreiche Studien an Populationen von klinischen Alkoholikern erbrachten Ergebnisse, die sich mit dem Krankheitsmodell des Alkoholismus kaum vereinbaren lassen. Insbesondere ist Alkoholismus offensichtlich bei weitem kein so stabiler Zustand wie gemeinhin angenommen.
So waren z.B. 18 Monate nach der Behandlung in (abstinenzorientierten) Therapieprogrammen des NIAAA[ National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism] etwa gleiche Teile der Patienten abstinent, periodisch trinkend und normal trinkend, wobei jedoch eine erhebliche Fluktuation zwischen den Kategorien festzustellen war. 70% der Patienten zeigten eine substantielle Verbesserung, jedoch war nur eine Minderheit von 25% langzeitabstinent. Die Rückfallquote für diejenigen, die zu "normalem" Trinken zurückgekehrt waren lag nicht höher als die der Abstinenten. Außerdem wurde eine unerwartet hohe Rate von Spontanremissionen festgestellt: 50% der unbehandelten Alkoholiker zeigten ebenfalls bedeutende Verbesserung.[ vgl. Armor/Polich/Stambul 1976]
Zwar lag die Rate der Verbesserten bei der Nachuntersuchung 4 Jahre nach Behandlung geringer, doch die grundsätzlichen Trends wie die hohe Rate von Fluktuation und Spontanremissionen sowie die Beobachtung, daß ein beträchtlicher Anteil von Alkoholikern zu kontrolliertem Trinken zurückkehrte, wurden bestätigt.[ vgl. Polich/Armor/Braiker 1980]
Inzwischen wurde in einer Vielzahl von Studien gezeigt, daß Rückkehr zu gemäßigtem Trinken möglich ist. Ferner erwies sich kontrolliertes Trinken insbesondere für sozial stabile Alkoholiker auch als Behandlungsziel als der Abstinenz mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen.[ vgl. z.B. Sobell/Sobell 1973 und 1976 sowie Sanchez-Craig 1980] Der Unterschied zwischen Problemtrinkern, die nach Behandlung abstinent bleiben und denjenigen, die beginnen, wieder kontrolliert zu trinken scheint nicht zuletzt in deren persönlichen Überzeugungen begründet zu sein: Sowohl Abstinente als auch Rückfällige hängen traditionellen Vorstellungen von Alkoholismus als Krankheit an, während kontrollierte Trinker diese zurückweisen.[ vgl. Polich/Armor/Braiker 1980, S 177; nebenbei bedeutet das auch, daß die häufig als Merkmal von Alkoholikern beschworene Verleugnung in der Praxis kaum eine Rolle spielt: Die überwiegende Mehrheit der rückfälligen Problemtrinker berachtet sich selbst als Alkoholiker.]
Auch ein anderes zentrales Konstrukt des Krankheitsmodells, die These, Alkoholaufnahme löse in Alkoholikern ein physiologisch bedingtes, unstillbares Verlangen aus, weiterzutrinken, steht in Widerspruch zur empirischen Forschung. Bereits mehrmals wurde gezeigt, daß zumindest in experimenteller Umgebung kein derartiger Kontrollverlust feststellbar ist[ vgl. Boscarino 1977, S 143].
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß A.A.'s Konzept von Alkoholismus als einheitlicher, biologisch bedingter, unheilbarer und progressiver Krankheit, das nach wie vor auch in der Medizin dominiert, mit empirischen Erkenntnissen in erheblichem Konflikt steht.