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7. Ist Alkoholismus eine Krankheit?


Das ursprünglich[ zumindest auf die Entwicklung in diesem Jahrhundert bezogen] hauptsächlich von Alcoholics Anonymous vertretene Konzept von Alkoholismus als einheitlicher, physiologisch bedingter, unheilbarer und progressiver Krankheit hat sich weitestgehend durchgesetzt. Historisch betrachtet brachte die Durchsetzung des Krankheitsmodelles durchaus positive Impulse. Die Betroffenen werden nicht mehr einfach als willensschwach und moralisch verkommen betrachtet, sondern als krank, was das damit verbundene soziale Stigma erheblich mildert. Ferner haben "Alkoholiker" dadurch Anspruch auf gesellschaftliche Unterstützung. Auch hat das Krankheitsmodell wohl überhaupt erst den Anstoß gegeben, sich mit dem Phänomen wissenschaftlich auseinanderzusetzen[ vgl. Nace 1987, S 62]. Doch wird dieses Modell, das sicherlich sozialpolitischen Bedürfnissen gerecht wird, auch wissenschaftlichen Anforderungen gerecht?

Die Häufigkeit von Alkoholproblemen und diagnostiziertem Alkoholismus unter verschiedenen sozialen Gruppen ist bemerkenswert unterschiedlich. Dabei scheint diese Verteilung stärker mit einigen demographischen Variablen zusammenzuhängen als mit physiologischen oder psychologischen Unterschieden. Aufschluß über Häufigkeit und Verteilung von Alkoholkonsum und alkoholbezogenen Problemen erbrachten hauptsächlich die Umfragen über das Trinkverhalten der Amerikaner von Cahalan et al. Folgende Faktoren erwiesen sich darin hauptsächlich als mit schwerem Trinken und alkoholbezogenen Problemen korreliert:

Geschlecht:
Rate der Problemtrinker 15% bei Männern, 4 % bei Frauen[ vgl. Cahalan 1970, S 137]
Alter:
Konzentration alkoholbezogener Probleme bei Männern von 20-30, bei Frauen von 30-50[ vgl. ib.]; mit steigendem Alter Rückgang von Alkoholkonsum und Trinkproblemen[ vgl. Cahalan/Cisin/Crossley 1969, S 204]
Ethnizität:
Unter Italienern am meisten schwere Trinker, unter Iren am meisten Alkoholprobleme[ vgl. ib., S 188]
Status:
Anteil der Trinker niedriger bei nierigeren sozialen Schichten, am höchsten bei jungen Männern mit hohem Status; unter den Trinkern jedoch mehr schwere Trinker und mehr trinkbezogene Probleme in der Unterschicht[ vgl. ib., S 186]
Bildung:
am meisten schwere Trinker bei relativ hohem Bildungsniveau (Highschool-Abschluß oder abgebrochenes Studium)[ vgl. ib., S 186]
Urbanisierung:
am meisten Abstinente in ländlichen Regionen, am meisten schwere Trinker in urbanisierten Gebieten[ vgl. ib., S 187]; unter den Trinkern jedoch mehr alkoholbezogene Probleme in vorwiegend abstinenten Regionen[ vgl. Cahalan/Room 1974, S 225]
Religion:
Unter Katholiken am meisten schwere Trinker; Unabhängig von Religion unter denen, die nie zur Kirche gehen, doppelt soviele schwere Trinker wie unter regelmäßigen Kirchgängern[ vgl. Cahalan/Cisin/Crossley 1969, S 188]
Es zeigt sich, daß die Frage, wer als "Alkoholiker" betrachtet wird, und damit, wer sich selbst als Alkoholiker betrachtet, erheblich von sozialen Einflüssen abhängig ist. So findet sich die größte Häufung von schwerem Alkoholkonsum und Alkoholproblemen bei jungen Männern, während in Behandlungsprogrammen ältere dominieren. Offensichtlich wird das Problemtrinken jüngerer Männer eher nachsichtig als "Jugendsünde" abgetan. Die Beobachtung, daß Trinker in Gebieten mit einem hohen Anteil von Abstinenten mehr alkoholbezogene Probleme haben, deutet in die gleiche Richtung: dort wird schweres Trinken offensichtlich eher sanktioniert als in diesbezüglich liberaleren Gegenden.

Es zeigt sich ebenfalls, daß viele der Beobachtungen in klarem Widerspruch zum Krankheitskonzept stehen. Zwar wird in den Cahalan-Studien das Trinkverhalten einer "normalen", also nicht institutionalisierten, Population analysiert und auch nicht explizit die Kategorie Alkoholismus, sondern der Alkoholverbrauch und die Häufigkeit alkoholbezogener Probleme als Maßstab benutzt[ vgl. Cahalan 1970, S 135], doch sind in diesen Kategorien auch die meisten "Alkoholiker" erfaßt. In der Praxis gibt es ohnehin kaum eine Möglichkeit, zwischen "echten Alkoholikern" und "Problemtrinkern", also schweren Trinkern, die alkoholbezogene Probleme haben, zu unterscheiden[ vgl. Fappiano 1983, S 2].

Insbesondere die Entdeckung, daß mit steigendem Alter Alkoholkonsum und Auftreten von Alkoholproblemen zurückgehen steht in klarem Widerspruch zum Alkoholismusmodell von A.A. Zwar wurde, da die Cahalan-Studien nur Momentaufnahmen zu verschiedenen Zeitpunkten darstellen, spekuliert, ob diese Beobachtung vielleicht das Resultat von Generationsunterschieden und nicht das individueller Entwicklung sein könnte, doch wurde der grundsätzliche Trend in mehreren anderen Erhebungen bestätigt[ vgl. U.S. Department of Health, Education and Welfare 1974, sowie U.S. Department of Health and Human Services 1987 und 1990].

Auch zahlreiche Studien an Populationen von klinischen Alkoholikern erbrachten Ergebnisse, die sich mit dem Krankheitsmodell des Alkoholismus kaum vereinbaren lassen. Insbesondere ist Alkoholismus offensichtlich bei weitem kein so stabiler Zustand wie gemeinhin angenommen.

So waren z.B. 18 Monate nach der Behandlung in (abstinenzorientierten) Therapieprogrammen des NIAAA[ National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism] etwa gleiche Teile der Patienten abstinent, periodisch trinkend und normal trinkend, wobei jedoch eine erhebliche Fluktuation zwischen den Kategorien festzustellen war. 70% der Patienten zeigten eine substantielle Verbesserung, jedoch war nur eine Minderheit von 25% langzeitabstinent. Die Rückfallquote für diejenigen, die zu "normalem" Trinken zurückgekehrt waren lag nicht höher als die der Abstinenten. Außerdem wurde eine unerwartet hohe Rate von Spontanremissionen festgestellt: 50% der unbehandelten Alkoholiker zeigten ebenfalls bedeutende Verbesserung.[ vgl. Armor/Polich/Stambul 1976]

Zwar lag die Rate der Verbesserten bei der Nachuntersuchung 4 Jahre nach Behandlung geringer, doch die grundsätzlichen Trends wie die hohe Rate von Fluktuation und Spontanremissionen sowie die Beobachtung, daß ein beträchtlicher Anteil von Alkoholikern zu kontrolliertem Trinken zurückkehrte, wurden bestätigt.[ vgl. Polich/Armor/Braiker 1980]

Inzwischen wurde in einer Vielzahl von Studien gezeigt, daß Rückkehr zu gemäßigtem Trinken möglich ist. Ferner erwies sich kontrolliertes Trinken insbesondere für sozial stabile Alkoholiker auch als Behandlungsziel als der Abstinenz mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen.[ vgl. z.B. Sobell/Sobell 1973 und 1976 sowie Sanchez-Craig 1980] Der Unterschied zwischen Problemtrinkern, die nach Behandlung abstinent bleiben und denjenigen, die beginnen, wieder kontrolliert zu trinken scheint nicht zuletzt in deren persönlichen Überzeugungen begründet zu sein: Sowohl Abstinente als auch Rückfällige hängen traditionellen Vorstellungen von Alkoholismus als Krankheit an, während kontrollierte Trinker diese zurückweisen.[ vgl. Polich/Armor/Braiker 1980, S 177; nebenbei bedeutet das auch, daß die häufig als Merkmal von Alkoholikern beschworene Verleugnung in der Praxis kaum eine Rolle spielt: Die überwiegende Mehrheit der rückfälligen Problemtrinker berachtet sich selbst als Alkoholiker.]

Auch ein anderes zentrales Konstrukt des Krankheitsmodells, die These, Alkoholaufnahme löse in Alkoholikern ein physiologisch bedingtes, unstillbares Verlangen aus, weiterzutrinken, steht in Widerspruch zur empirischen Forschung. Bereits mehrmals wurde gezeigt, daß zumindest in experimenteller Umgebung kein derartiger Kontrollverlust feststellbar ist[ vgl. Boscarino 1977, S 143].

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß A.A.'s Konzept von Alkoholismus als einheitlicher, biologisch bedingter, unheilbarer und progressiver Krankheit, das nach wie vor auch in der Medizin dominiert, mit empirischen Erkenntnissen in erheblichem Konflikt steht.


 <-  ->  ^   © 1990/1997 Peter Daum