Ihren Ausgang nahm die Entwicklung in Zürich. "Rowland H.", ein wohlhabender junger Amerikaner, begab sich in zunehmender Verzweiflung über seine Unfähigkeit, sein Trinken unter Kontrolle zu bringen in Behandlung bei einem der berühmtesten Psychiater der Zeit, C.G. Jung. Nach fast einem Jahr verließ er die Behandlung voll Zuversicht, wurde jedoch bald wieder rückfällig[ vgl Kurtz 1988, S 8]. Als er den von ihm bewunderten Psychiater wieder aufsuchte, erklärte ihm Jung, er sei ein völlig hoffnungsloser Fall; er würde nie wieder seine Stellung in der Gesellschaft zurückerlangen, und wenn er lange leben wolle müsse er sich einsperren lassen. Auf Rowland H.'s Drängen ob es denn gar keine Hoffnung gebe räumte Jung ein, in seltenen Fällen seien Alkoholiker durch ein spirituelles Bekehrungserlebnis das die ganze Persönlichkeitsstruktur umwälzte von ihrem Alkoholismus genesen[ vgl. Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1989, SS 26 f].
In Reaktion auf diesen Hoffnungsschimmer trat Rowland H. der "Oxford-Gruppe" bei, einer damals auch in Europa recht erfolgreichen evangelistischen Bewegung, die in theologisch extrem konservativer Weise versuchte, den Geist dessen was sie für das Frühchristentum hielt wiederherzustellen. Dort fand er tatsächlich das Bekehrungserlebnis, das ihn von seinem Zwang zum Trinken erlöste. Zurück in New York wurde er im Hauptquartier der Oxford-Bewegung, der Calvary Episcopal Church des Reverend Dr. Samuel Shoemaker, aktiv[ vgl. Kurtz 1988, S 9].
Die Oxford-Gruppe legte großes Gewicht auf die Bekehrung anderer, und in Hinblick auf seinen eigenen Hintergrund beschloß Rowland, diese Bemühungen hauptsächlich auf Alkoholiker zu konzentrieren. Als er 1934 erfuhr, daß sein Freund "Ebby T." wegen seines Trinkens von Zwangseinweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus bedroht war gelang es ihm, diesen zur Ideologie der Oxford-Bewegung zu bekehren und bei Gericht eine Bewährungsfrist zu erwirken. Auch für Ebby wurde die Identifikation mit der Oxford-Gruppe wichtiger als Alkohol.[ ib.] Um die Botschaft weiterzugeben suchte Ebby seinerseits den hoffnungslosesten und selbstzerstörerischsten Trinker den er kannte auf, seinen alten Freund "Bill W".
Bill Wilson, ein früher recht erfolgreicher Börsenmakler, war durch Börsenkrach und Alkohol in zunehmende Schwierigkeiten geraten. Zwischen 1933 und 1934 war er auf Betreiben seiner Familie viermal in das Charles. B. Towns Hospital zur Ausnüchterung eingewiesen worden. Dort wurde er von Dr. William Duncan Silkworth behandelt, einem Arzt, dessen Ansichten über Alkoholismus zu einem weiteren entscheidenden Element in der Ideologie und Praxis der späteren Alcoholics Anonymous werden sollte[ vgl. Blumenberg 1977, S 2130].
Silkworth vertrat die Ansicht, Alkoholismus sei eine Krankheit, eine physische Allergie gegenüber Alkohol; Alkoholiker seien besessen von Alkohol und so verdammt, wieder zu trinken, und sobald sie die geringste Menge Alkohol zu sich nähmen, verlören sie jegliche Kontrolle über ihr Trinken . Nach Bill Wilsons wiederholten Rückfällen erklärte er diesem schließlich, er sei völlig hoffnungslos und seine einzigen Alternativen seien, sich einsperren zu lassen, verrücktzuwerden oder zu sterben[ vgl. Kurtz 1988, S 15].
Das war der Stand der Dinge, als Wilson von seinem Schulkameraden Ebby aufgesucht wurde. Er war ziemlich perplex, als Ebby den ihm angebotenen Drink ablehnte und Bill erklärte, er habe Alkohol nicht mehr nötig- er habe Religion. In Anbetracht seiner Hoffnungslosigkeit war Bill sehr begierig, mehr zu erfahren und so sprachen die beiden für mehrere Stunden[ vgl. Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1989, SS 9 ff].
Nach einigen weiteren Gesprächen war Wilson überzeugt und bat um die Aufnahme in die Oxford-Gruppe. Da er Anzeichen von Delirium Tremens zeigte begab er sich zu einer letzten Entziehung ins Krankenhaus[ ib., S 15.]. Als er dort während der Nacht für ein Zeichen von Gottes Gegenwart betete hatte er eine religiöse Vision:
Plötzlich erhellte sich der Raum von einem großen, weißen Licht. Ich war gefangen in einer Ekstase, die zu beschreiben es keine Worte gibt. Es schien mir vor meinem inneren Auge, daß ich auf einem Berge war, wo ein Wind bläst, der nicht aus Luft, sondern aus Geist besteht. Und dann explodierte es in mir, daß ich ein freier Mann war. Langsam ließ die Ekstase nach. Ich lag auf dem Bett, aber jetzt war ich in einer anderen Welt, einer neuen Welt der Bewußtheit. Ich war durchdrungen von dem wundervollen Gefühl Seiner Gegenwart, und ich sagte mir: "Also das ist der Gott der Prediger!" Ein großer Friede kam über mich, und ich dachte mir: "Egal wie falsch die Dinge zu sein scheinen, sie sind in Ordnung. Alles ist in Ordnung mit Gott und Seiner Welt."[ Wilson, zit. n.: Kurtz 1988, SS 19 f]Als er Silkworth von dieser Erfahrung berichtete, empfahl ihm dieser, William James' "Varieties of Religious Experience" zu lesen. Dieses Buch, in dem unter anderem auch Bekehrungserlebnisse von Alkoholikern geschildert werden, wurde zu einem weiteren wichtigen Baustein für das Programm von Alcoholics Anonymous[ vgl. Blumenberg 1977, SS 2131 f]. In Bill Wilson's Interpretation war James' Botschaft:
Spirituelle Erfahrungen (...) können objektive Realität haben; fast wie unerwartete Geschenke können sie Menschen umformen. (...) alle hatten die großen gemeinsamen Nenner von Schmerz, Leiden, Elend. Völlige Hoffnungslosigkeit und tiefe Demütigung["deflation at depth"] waren fast immer Voraussetzung um den Empfänger bereit zu machen. Die Bedeutung all dessen brach über mich herein: Tiefe Demütigung - ja, das war es. Genau das war mit mir geschehen.[ Wilson, zit. n.: Kurtz 1988, SS 20 ff]Damit war der Grundstein zur Entwicklung von Alcoholics Anonymous gelegt:
Eine Hälfte der Kernidee - die Notwendigkeit spiritueller Bekehrung - wurde von Dr. Carl Jung an Rowland weitergegeben. Eingekleidet in die Praxis der Oxford-Gruppe hatte es im ersten Treffen von Bill und Ebby die andere, noch separate Hälfte aufsteigen lassen - die gleichzeitige Weitergabe von Demütigung und Hoffnung durch "einen Alkoholiker, der zu einem anderen spricht". Nun, unter der gütigen Führung von Dr. Silkworth und den tiefschürfenden Gedanken von William James, verschmolzen die zwei Hälften, um in Wilson's Geist ein bis dahin nur implizit verwirklichtes Ganzes zu bilden.[ Kurtz 1988, S 21]
Jedoch ist Wilson noch weit entfernt davon, eine eigene Organisation zu gründen; er engagiert sich weiterhin in der Oxford-Gruppe und beginnt eine lebenslange Freundschaft mit Samuel Shoemaker, dessen Lehren später weitgehend die Formulierung und Interpretation der 12 Schritte von A.A. bestimmen werden[ vgl. Knippel 1987, S 285]. In der Oxford-Gruppe erklärt Bill Wilson, er werde alle Säufer dieser Erde ausnüchtern und beginnt zu Trinkern von den Prinzipien der Oxford-Gruppe, insbesondere von der Notwendigkeit der Bekehrung und Wiedergutmachung und von den "Vier Absolutheiten" der Gruppe - absolute Ehrlichkeit, absolute Reinheit, absolute Selbstlosigkeit und absolute Liebe - zu predigen. Jedoch ist er damit zunächst nicht übermäßig erfolgreich. Die meisten der Alkoholiker die er zur Oxford-Gruppe bringt trinken binnen kurzer Zeit wieder[ vgl. Kurtz 1988, S 25].
Als Bill Wilson daraufhin Dr. Silkworth um Rat bittet, wird er von diesem an seine eigene Erfahrung erinnert, daß ein Zustand tiefer Demütigung und Verzweiflung nötig ist um den Alkoholiker bereit zu machen. Er empfiehlt, zuerst über den medizinischen Aspekt zu sprechen, darüber, daß Alkoholiker zu Tod oder Wahnsinn verdammt seien wenn sie nicht aufhörten zu trinken. Erst wenn es ihm gelungen sei, deren zähe Egos zu brechen könne er beginnen, ihnen die ethischen Prinzipien der Oxford-Gruppe zu vermitteln.[ ib, S 26]
Bei einem Geschäftsaufenthalt Bill Wilsons in Akron/Ohio kommt es dann zu der Begegnung mit "Dr. Bob", die von A.A. als die eigentliche Geburtsstunde ihrer Organisation betrachtet wird. Bill's Geschäfte laufen nicht zu gut. Er ist an einem unvertrauten Ort, diskreditiert und fast mittellos, und fühlt, daß er entweder mit jemandem sprechen muß oder rückfällig werden wird. Schließlich kommt ihm der Gedanke an all die anderen Alkoholiker, denen er hatte helfen wollen[ vgl. Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1989, S 154].
So setzt sich Wilson telephonisch mit der örtlichen Oxford-Gruppe in Verbindung und wird dort an Henrietta Seiberling verwiesen. Diese wiederum arrangiert ein Treffen mit Dr. Robert Smith, einem angesehenen Arzt und Oxford-Gruppenmitglied, den sie schon lange versucht hatte, auszunüchtern[ vgl. Kurtz 1988, S 28]. Smith ist von Wilsons Beispiel sehr beeindruckt. Obwohl er auch in der Oxford-Gruppe aktiv gewesen war, war es ihm bisher nicht gelungen, für längere Zeit nüchtern zu bleiben. Beide kommen zu dem Schluß, daß der spirituelle Ansatz alleine nicht genügt, solange man nicht versucht, ihn an andere weiterzugeben[ ib., S 32].
Smith lädt Wilson ein, bei ihm und seiner Frau zu wohnen. Es beginnt eine Zeit intensiven Unterrichts in den Prinzipien der Oxford-Bewegung durch Dr. Bob's Frau Anne Smith und Henrietta Seiberling. Insbesondere lernen Wilson und Smith, den Tag damit zu beginnen, Gottes Wille zu erforschen.[ ib., S 40]
Außerdem beginnen die beiden auf Vorschlag Dr. Bobs schon einen Tag nachdem dieser beschlossen hatte, Wilsons Programm zu folgen damit, mit anderen Alkoholikern zu arbeiten[ ib., S 37]. Bill bleibt den ganzen Rest des Sommers, doch das Resultat ihrer gemeinsamen Anstrengungen ist vorerst äußerst frustrierend. Trotz intensivster Anstrengungen gelingt es ihnen nur bei zwei anderen Alkoholikern, sie von ihrem Programm zu überzeugen, was einer Erfolgsquote von weniger als fünf Prozent entspricht.[ ib., S 42]
Zurück in New York setzt Bill seine Missionierungsbemühungen gemeinsam mit seiner Frau Lois fort. 6 Monate lang bringen sie Alkoholiker in ihr Haus, um sie dort liebevoll zu pflegen. Nach einigen katastrophalen Erfahrungen geht Wilson dazu über, sich im Towns Hospital nach möglichen Kandidaten umzusehen und sie zu den Treffen der Oxford-Gruppe einzuladen. Zunächst nur sehr langsam wächst die Zahl der Alkoholiker in der Gruppe.[ ib., S 43 ff]
Obwohl die Alkoholiker-Gruppe auch weiterhin stark von ihren Wurzeln in der Oxford-Gruppe geprägt ist, ist in der Folgezeit insbesondere Wilson darauf bedacht, zumindest im öffentlichen Bewußtsein nicht mit dieser assoziiert zu werden, um so mehr als er erfährt, daß die katholische Kirche plant, die Oxford Bewegung zu verdammen und befürchtet, sein Programm könnte ebenfalls unter diese Verdammung fallen[ ib., S 47].
Die Abspaltung der New Yorker Alkoholiker-Gruppe bedeutet gleichzeitig faktisch eine Spaltung der noch namenlosen und nur eine Handvoll Mitglieder zählenden Bewegung, denn Robert Smith's Gruppe in Akron/Ohio versteht sich noch für lange Zeit weiterhin als Bestandteil der Oxford-Bewegung[ ib., S 56] und ist auch in ihren Praktiken deutlicher von dieser geformt. So ist in Akron zum Beispiel als Voraussetzung für die Aufnahme ein öffentliches Schuldbekenntnis und rituelles Eingestehen der persönlichen Machtlosigkeit gegenüber Alkohol üblich[ ib., S 54]. Zwar sind die Unterschiede zwischen den Gruppen eher stilistischer als inhaltlicher Natur aber nichtsdestotrotz entwickelt sich zeitweise eine deutliche Rivalität zwischen den zwei Gruppen[ ib., S 62 f]. Die Nachwirkungen dieser Spaltung in zwei Linien mit etwas unterschiedlichen Schwerpunkten sind auch in der Alcoholics Anonymous-Bewegung von heute noch sichtbar[ ib., S 205 f].
Zudem geraten sowohl die Wilsons als auch die Gruppe in zunehmende Finanzprobleme. Wilson bekommt ein Angebot des Towns Hospital, seine Arbeit mit Alkoholikern dort bezahlterweise fortzusetzen. Nachdem er diesen Plan mit der Gruppe bespricht und diese sich ablehnend äußert - eine erste Manifestation dessen was sich später als "Gruppenbewußtsein" in den "Zwölf Traditionen" von Alcoholics Anonymous niederschlagen wird - lehnt Bill ab.[ ib., SS 136 ff]
In Bezug auf die Gruppe werden die Bemühungen, einen großzügigen Geldgeber zu finden jedoch fortgesetzt. Dies ist zunächst erfolglos; als es im Frühjahr 1938 gelingt, ein Treffen mit der Rockefeller-Foundation, einer Wohltätigkeitsstiftung des damals reichsten Amerikaners zu arrangieren, wird dies als die große Chance gesehen.[ vgl. Chaiken 1979, SS 6 ff] John D. Rockefeller steht dem ihm vorgetragenen Programm durchaus positiv gegenüber, ist jedoch der Meinung, daß Geld diesen Versuch, das Christentum des ersten Jahrhunderts auszuleben, nur verderben würde. Deshalb stellt er der Alkoholiker-Gruppe lediglich die in Anbetracht der erhofften Beträge äußerst bescheidene Summe von $5000 zur Verfügung.[ vgl. Kurtz 1987, SS 66 ff] Dies reicht zwar bei weitem nicht aus, die ursprünglichen hochfliegenden Pläne zu verwirklichen, genügt jedoch, um zum einen eine gemeinnützige Gesellschaft namens "Alcoholic Foundation"[ das spätere "General Service Board"] und eine Art Aufsichtsrat[ den "Board of Trustees", der zunächst mit 2 Mitgliedern der Gruppe und 3 Nichtalkoholikern besetzt ist; vgl. Silcott 1971, S 11] für die Bewegung ins Leben zu rufen, zum anderen, um Wilson während der Verfassung seines Buches finanziell abzusichern[ vgl Chaiken 1979, S 7].
Zumindest einzelne Mitglieder der Gruppe kritisieren von Anfang an den eindeutig religiösen Ton dieser Schritte[ vgl. Kurtz 1987, SS 70 f]. Teils um diesen Eindruck abzumindern, teils aus Besorgnis, die katholische Kirche könnte die Bewegung als religiöse Konkurrenzorganisation einstufen - zumindest ein Priester hatte seiner Gemeinde schon den Besuch der Treffen verboten - werden einige Änderungen vorgenommen. Statt einfach "Gott" heißt es fortan "eine Macht größer als wir selbst" oder "Gott, wie wir ihn verstanden".[ ib., S 76] Außerdem werden auf Anraten eines befreundeten Psychiaters in dem gesamten Buch die ursprünglich als Gebote formulierten Grundsätze zu Beschreibungen der eigenen Erfahrungen abgeschwächt[ ib., S 75].
Veröffentlicht von der "Works Publishing Inc." (später: Alcoholics Anonymous World Services Inc.), einer Aktiengesellschaft, die sich aus Gruppenmitgliedern und einigen Unterstützern zusammensetzt, wird im April 1939 das Buch veröffentlicht, das der Bewegung den Namen gibt: Alcoholics Anonymous[ vgl. Chaiken 1979, S 7]. Dieser Name war dabei eher ein Zufallsprodukt[ Wilson soll angeblich "The Way Out- The Bill W. Movement" favorisiert haben; vgl Kurtz 1987, SS 74 ff]. Zwar war Anonymität in der Bewegung üblich gewesen, jedoch hauptsächlich weil die Mitglieder anderenfalls geschäftliche Nachteile befürchteten[ ib., S 87]; zum "spirituellen Prinzip" wurde sie erst 1953 in den "12 Traditionen"[ Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1953] erhoben.
Finanziell bringt das Buch nicht den erhofften Erfolg, worunter nicht zuletzt die individuellen Mitglieder als Geldgeber des Verlages leiden. Doch wiederum kommt Rockefeller zu Hilfe, indem er der Alcoholic Foundation genug Geld leiht, um den Verlag den einzelnen Aktieninhabern abzukaufen. Viel wichtiger noch ist ein von ihm veranstaltetes Dinner, auf dem er Alcoholics Anonymous die Gelegenheit bietet, ihr Programm seinen reichen und einflußreichen Gästen vorzustellen, was zum einen hilft, die finanzielle Situation zu verbessern, und zum anderen die Aufmerksamkeit der Presse erregt.[ vgl. Chaiken 1979, S 8]
Dies sind nur einige Beispiele in einer Welle von Veröffentlichungen über A.A. in den Jahren ab 1939. Zumindest in dieser Anfangszeit des Wachstums von A.A. ist die Art der Mitgliederwerbung für Alcoholics Anonymous im allgemeinen sehr aggressiv und durchaus nicht, wie in den "12 Traditionen" festgelegt auf Attraktion statt auf Promotion aufgebaut[ wobei die 12 Traditionen natürlich erst 1946 erstmals formuliert wurden und von daher zum Teil auch eine Reaktion auf das Geschehene darstellen; vgl. Kurtz 1987, S 100 (Fußnote)] Ziemlich häufig erfolgt sie, im Gegensatz zum erklärten Grundsatz der Anonymität, durch Nutzung prominenter Mitglieder als Aushängeschild.
Ab etwa 1943 beginnt sich dies allmählich zu ändern. Wilson erhält immer mehr Einladungen, vor medizinischen Gremien das Programm von Alcoholics Anonymous vorzustellen und kann so zahlreiche Kontakte knüpfen[ ib., S 117]. Am wichtigsten in diesem Zusammenhang dürfte sein, daß es gelingt, den "Papst" der Alkoholismus-Forschung, Dr. E. M. Jellinek von der Yale University, zu gewinnen. Jellinek's Ansehen als Wissenschaftler war wahrscheinlich der ausschlaggebende Faktor für den Siegeszug von Alcoholics Anonymous in der medizinischen Welt.
Im Januar 1944 kündigt Jellinek, hauptsächlich auf Betreiben von Marty Mann[die übrigens das erste weibliche A.A.-Mitglied war und selbst mit ihrem 1953 erschienenen "New Primer on Alcoholism" sowie als Leiterin des National Council on Alcoholism ebenfalls erheblich zur Akzeptanz von A.A. bei Medizinern beitrug], einige Programme der Yale University mit dem Ziel, dem Konzept von Alkoholismus als (behandelbarer) Krankheit zum Durchbruch zu verhelfen an. Eines dieser Programme, das in den folgenden Jahren beträchtliche Öffentlichkeitsarbeit betreibt, ist das "National Committee for Education on Alcoholism". In das Beraterkomitee der Organisation werden auch die beiden Gründer von Alcoholics Anonymous berufen[ Kurtz 1987, SS 118 f].
Dies führt zum Konzept des "high bottom". Grundsätzlich wird zwar nach wie vor die Notwendigkeit des "hitting bottom" betont, jedoch eher im Sinne einer emotionalen Erfahrung der völligen Hilflosigkeit gegenüber Alkohol. Deshalb verlegt man sich darauf, die frühen Symptome der Krankheit Alkoholismus darzustellen, verbunden mit einer eindringlichen Betonung der Unausweichbarkeit der Progression[ ib., S 115].
Schon Mitte der fünfziger Jahre ist es Alcoholics Anonymous gelungen, beträchtliches Ansehen in medizinischen Kreisen zu erringen. So zeigt z.B. eine 1956 von Hayman unter Psychiatern durchgeführte Studie, daß 99% der befragten Psychiater A.A. grundsätzlich gutheißen und 77% auch Patienten, die Probleme mit Alkohol haben dorthin überweisen. Insgesamt wird der Erfolg von A.A. höher bewertet als der der eigenen Arbeit.[ zit. n. Leach 1973, S 251]
Spätestens in den sechziger Jahren hat sich Alcoholics Anonymous zur mit Abstand am weitesten verbreiteten Therapie gegen Alkoholismus entwickelt. A.A. ist jedoch nicht nur die bekannteste Selbsthilfegruppe; auch im Bereich professioneller Alkoholismustherapie und in staatlichen Institutionen die mit Alkoholismus befaßt sind setzt sich die Ideologie von Alcoholics Anonymous zusehends durch[ vgl. Cain 1967, S 84].
Das Problem der Alkoholiker, die auch Schwierigkeiten mit anderen Drogen außer Alkohol haben, soll noch einige Konferenzen von Alcoholics Anonymous beschäftigen. Die Politik in dieser Frage, die sich in den sechziger Jahren herauskristallisiert, ist, diese Menschen zu dulden, soweit sie in den Treffen vorwiegend von Alkohol sprechen, und sie anderenfalls auf Narcotics Anonymous[eine schon 1953 gegründete Selbsthilfegruppe für Drogenabhängige, die die 12 Schritte und 12 Traditionen von Alcoholics Anonymous übernahm, jedoch jedem, der sich von irgendeiner stimmungsverändernden Substanz (Alkohol eingeschlossen) abhängig glaubt, offensteht; vgl. World Service Office Inc. 1986, SS xii ff] zu verweisen. So werden auch die von A.A. aufgelassenen Versammlungsorte oft von Narcotics Anonymous übernommen[ vgl. Kurtz 1987, S 165].
Bill Wilson hatte nicht nur Alcoholics Anonymous begründet, er war auch Zeit seines Lebens die tonangebende Figur geblieben. So hatte er in 156 Artikeln in der von Alcoholics Anonymous herausgegebenen Zeitschrift "The A.A. Grapevine" auf die A.A.-internen Diskussionsprozesse Einfluß genommen[ ib., S 200] und auch die gesamte Literatur der Organisation verfaßt[ ib., S 167]. In den folgenden Jahren wird es aus Gesundheitsgründen zunehmend ruhiger um den Gründer von A.A.. 1970 wird Bill Wilson im Rollstuhl zu seinem letzten öffentlichen Auftritt auf der 35. Geburtstagsversammlung von A.A. in Miami Beach gebracht, wo er mit frenetischem Beifall gefeiert wird[ ib., SS 155 f]. Sechs Monate später, am 24. Januar 1971, erliegt Bill Wilson einem schon lange andauernden Herzleiden.
Dabei hält man jedoch weitgehend an der bisherigen Praxis der Bewegung fest, so daß die folgenden Jahre wenig von revolutionären Veränderungen sondern in erster Linie von einer Fortsetzung bereits bestehender Trends gekennzeichnet sind. Hauptthemen der A.A.-Konferenzen zwischen 1970 und 1985 sind die Frage, wie praktizierende Alkoholiker besser erreicht werden können, die Verbesserung der Zusammenarbeit mit Professionellen in der Alkoholismusbehandlung, sowie Veränderungen in der Mitgliederstruktur.[ ib., S 165]
Um die Kontakte zu Menschen und Institutionen, die mit dem Thema Alkoholismus befaßt sind, weiter auszubauen werden eine Vielzahl von Gremien auf allen Ebenen von Alcoholics Anonymous eingerichtet. Hervorzuheben sind besonders die ab 1971 auf lokaler Ebene entstehenden "Committees on Cooperation with the Professional Community" (C.P.C.'s), die aktiv an Ärzte, Behandlungsprogramme etc. herantreten, um sie für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. [ vgl. Alcoholics Anonymous World Services Inc. 1980, SS 22 f]
Überhaupt ist in der Bewegung nach 1970 ein steigender Organisationsgrad und auch ein Trend zu zunehmender Bürokratisierung festzustellen. So klagt 1983 auf der A.A.-Konferenz ein Sprecher über die sich entwickelnde Starrheit, Gesetz-und-Ordnung-Mentalität und Entschlossenheit, die Traditionen buchstabengetreu und ohne jede Elastizität durchzusetzen[ zit. n. Kurtz 1987, S 170]. Auch die A.A.-interne Zeitschrift "The A.A. Grapevine" hatte nach dem Tode Wilsons versucht, jedes Thema zu vermeiden, das irgendjemandem in A.A. mißfallen könnte; dabei hatte sie aber offensichtlich an Popularität verloren, so daß die Auflage zwischen 1971 und 1985 zurückging[ ib., SS 187 f].
Insgesamt jedoch ist Alcoholics Anonymous weiter im Aufwind und gewinnt sowohl an Mitgliedern als auch an Einfluß. Die 1968 eingeführten Mitgliederumfragen zeigen eine Steigerung der Mitgliederzahl von 311450 im Jahre 1971 auf 1556316 im Jahre 1987, die Zahl der Gruppen steigt im gleichen Zeitraum von 16459 auf 73192, mit dem größten Wachstumsschub zwischen 1971 und 1975[ ib., SS 171 f]. Gleichzeitig wird die Philosophie von A.A. immer populärer und das Programm von Nachahmern wie Gamblers Anonymous, Overeaters Anonymous, Neurotics Anonymous etc. auf immer mehr Bereiche ausgedehnt.