Die Beschäftigung mit Biografien gehört zu den spannendsten Forschungen in der modernen Gesellschaft und umfasst die Auseinandersetzung mit Individualität und sozialen Bedingungen, in denen diese Individualität entwickelt und gelebt und/oder behindert und nicht gelebt werden kann. In jeder Biografie zeigt sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, so dass die Biografieforschung seit den 70er Jahren einen festen Platz in der Soziologie inne hat und sowohl für die Soziale Arbeit als auch für die Erziehungswissenschaft/(Kindheits-)Pädagogik von hohem Erkenntniswert ist. In der Rekonstruktion von Lebensgeschichten und biografischen Selbstpräsentationen wird deutlich, mit welchen lebensgeschichtlichen Herausforderungen und Zumutungen Menschen in unserer Gesellschaft umzugehen haben und wie sie diese in ihre Biografie integrieren.
Inhalt des Seminars wird die Erforschung von Lebens- und/oder Familiengeschichten sein. Es wird hierzu durch die Vermittlung der Forschungsmethode der Biografischen Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal (2015) ein methodischer Zugang der interpretativen Sozialforschung gelernt und vertieft, der die Studierenden in die Lage versetzt, selbständig und mittels autobiografisch-narrativer Interviews (vgl. Schütze 1983) Lebensgeschichten zu erheben und diese mit einem textanalytischen und hermeneutischen Verfahren auszuwerten. Im Ergebnis der biografischen Fallrekonstruktionen können spezifische, sehr genaue und gleichzeitig auch verallgemeinernde Aussagen zu sozialen Kontextbedingungen, Handlungs- und Deutungsstrukturen von Menschen in unterschiedlichen sozialen Verhältnissen und mit unterschiedlichen biografischen Herausforderungen erarbeitet werden.
Wo die Studierenden bei der eigenen empirischen Arbeit ihren Schwerpunkt setzen möchten, können sie selbst wählen, wobei ein Bezug zum professionellen Kontext der Sozialen Arbeit und/oder (Kindheits-)Pädagogik erkennbar sein muss.
Im Seminar werden Kompetenzen empirischer Sozialforschung erworben, die sowohl in der Forschung als auch in der praktischen Sozialen Arbeit und (Kindheits-) Pädagogik genutzt werden können (Rätz/Völter (Hrsg.) 2015; Völter/Reichmann 2017). Das Seminar kann neben der Erweiterung von Forschungskompetenzen der Reflexion und Selbstaufklärung professionellen Handelns dienen und zur Gestaltung und Weiterentwicklung professioneller Interventionsformen beitragen (vgl. Riemann 2005).
Dieses Seminar kann parallel und ergänzend zu der Lehrveranstaltung „Biografie und Gesellschaft“ (Modul 4 im MA PSP), in der es um die theoretische und methodologische Vertiefung von Biografieforschung geht, belegt werden.
Literatur
Rätz, Regina/Völter, Bettina (Hrsg.) (2015): Wörterbuch Rekonstruktive Soziale Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Riemann, G. (2005): Zur Bedeutung ethnographischer und erzählanalytischer Arbeitsweisen für die (Selbst-)Reflexion professioneller Arbeit. Ein Erfahrungsbericht. In: Völter, B./Dausien, B./Lutz, H./Rosenthal, G. (Hg.): Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 248-270. – Text zum Analysieren und Schreiben von Feldprotokollen
Rosenthal, Gabriele (2015): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim: Beltz Juventa.
Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, 3. Jg., S. 283-294.
Völter, Bettina/Reichmann, Ute (Hrsg.) (2017): Rekonstruktiv denken und handeln. Rekonstruktive Soziale Arbeit als professionelle Praxis. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich |