Seit dem Jahr 2011 steht auf der Fassade der ASH Berlin das Gedicht avenidas von Eugen Gomringer, der 2011 den Alice Salomon Poetik Preis erhielt. Ein offener Brief des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) kritisierte 2016 das Gedicht als offizielles Aushängeschild der Hochschule, in dem „eine klassische patriarchale Kunsttradition“ reproduziert werde. Es erinnere „zudem unangenehm an sexuelle Belästigung“. Ein Antrag an den Akademischen Senat wurde intern kontrovers diskutiert.
Anschließend wurde die Empfehlung an die Hochschulleitung ausgesprochen, einen partizipativen Prozess um die Gestaltung der Südfassade anzustreben. Der nachfolgend beschlossene Wettbewerb zur (Neu-)Gestaltung der Fassade und dessen Begründung ruft seit dem Sommer 2017 eine nicht abreißende Kette von Reflexionen und Reaktionen über genderpolitische Fragen, die Freiheit von Kunst im öffentlichen Raum und die Macht der Worte hervor. Es werden sich scheinbar ausschließende Positionen wie die der basisdemokratischen Mitbestimmung über die Gestaltung einer hochschuleigenen Wand einerseits und Vorwürfe einer möglichen Zensur andererseits diskutiert.
Die Debatte wirft Fragen auf, über die zu reden sich lohnt. Daher veranstaltete die ASH Berlin am 7. November 2017 in Kooperation mit dem Haus für Poesie eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Kunst und die Macht der Worte“.
Die Pressemitteilung zu der Podiumsdiskussion:
Großer Andrang bei Podiumsdiskussion zum Thema "Kunst und die Macht der Worte"
Berlin, 8. November 2017. Eine vielstimmige, fundierte Kontroverse zur möglichen (Neu-)Gestaltung der Südfassade wurde am gestrigen Abend im AudiMax der Alice Salomon Hochschule Berlin geführt. Eingeladen hatte die Hochschule gemeinsam mit dem Haus für Poesie zur Podiumsdiskussion "Kunst und die Macht der Worte". Das Publikum wurde zunächst mit einer szenischen Lesung unter der künstlerischen Leitung von Hanna Beneker auf die Diskussion und ihre bisher verbreiteten Argumente eingestimmt. Neun Studierende der Hochschule lasen dazu im Raum verteilt aus Zeitungsartikeln und Texten, die in den letzten Wochen veröffentlicht wurden. Durch das gesprochene Wort wurde die Vielfalt der Argumente, die Dimension der mitverhandelten Themen sowie die machtvolle Wirkung der zum Teil herabwürdigenden Wortwahl in der Berichterstattung über die ASH Berlin spürbar.
In einem spannungsgeladenen und mit mehr als 200 Gästen vollbesetzten AudiMax diskutierten die Podiumsgäste anschließend über Kunst im öffentlichen Raum, ungleiche Geschlechterverhältnisse und das Wirkungspotenzial von Texten. Für das Haus für Poesie saßen dessen Leiter Dr. Thomas Wohlfahrt auf dem Podium sowie die Alice Salomon Poetik Preisträgerin 2017 Barbara Köhler. Für die ASH Berlin sprachen deren Prorektorin Prof. Dr. Bettina Völter und die von der Hochschule eingeladene Publizistin Dr. Andrea Roedig.
In der Diskussion, die von der Literaturkritikerin Claudia Kramatschek moderiert wurde, zeigten sich die unterschiedlichen Auffassungen zur Debatte. Dr. Andrea Roedig wunderte sich über die starke Polarisierung und die große Aufregung um so ein "kleines" Gedicht. "Es ist eine Stellvertreter-Debatte, in der es nicht wirklich um die ASH Berlin geht, sondern um Deutungshoheiten und die Beeinflussung eines politischen Klimas." Barbara Köhler meinte: "Das Gedicht steht an der Fassade mit einem Anspruch: „für alle“. Es wirkt in den öffentlichen Raum. Ich denke, dass gute Gedichte grundsätzlich ein Spektrum an Lesarten bieten. So ist es eine mögliche Lesart, wenn die Hochschule sagt, dieses Gedicht steht nicht für uns." Außerdem bot sie an, der Hochschule als aktuelle Preisträgerin selbst ein Gedicht zu schenken - außerhalb des Wettbewerbs. Bettina Völter vertrat unter Verweis auf die Bildsprache, mit der das Gedicht in den Medien verbreitet wird, die Ansicht: "Die Fassadendebatte hat dem Gedicht und dem Künstler nicht geschadet, sondern sie noch bekannter gemacht. Es wäre allerdings weder der Kunst allgemein noch dem Gedicht angemessen, wenn sie zur Ikone erstarren würden. Ein Kunstverständnis, das in Anlehnung an Joseph Beuys die Debatte als Teil des Gesamtkunstwerks, als „soziale Plastik“ sehen könnte, würde uns gemeinsam weiter bringen als die aggressiv vorgetragenen Forderungen gegen die ASH Berlin". Dr. Thomas Wohlfahrt stimmte ein: "Das Gedicht ist nun mehr als es vorher war. Durch die Debatte ist es eine soziale Plastik geworden. Die Frage ist jetzt, wie geht es weiter. Für eine Lösung muss auf jeden Fall Eugen Gomringer mit einbezogen werden." Die ASH Berlin steht in Austausch mit dem Ehepaar Gomringer. Die Prorektorin, Professor_innen und Studierende besuchten die Familie in ihrem Kunsthaus in Rehau. Ein weiteres Treffen ist geplant. Vereinbart wurde, dass Details der Begegnungen nicht an die Presse gegeben werden.
Im Anschluss an die Podiumsbeiträge beteiligte sich das Publikum rege an der Diskussion. Es meldeten sich u.a. Professor_innen, Studierende und Mitarbeiter_innen sowie Hellersdorfer Bürger und Politiker zu Wort. Begleitend zur Veranstaltung wurde eine öffentliche Ausstellung mit einschlägigen Beiträgen aus der bisherigen medialen Berichterstattung installiert. Interessierte sind dazu eingeladen, die Ausstellung vor dem AudiMax der ASH Berlin noch bis zum 8. Dezember 2017 zu besuchen.