Anlässlich der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September 2021 lud die Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH Berlin) am 22. Juni zum digitalen “Hochschulpolitischen Wahlcheck” ein. Gäste auf dem Podium waren die wissenschaftspolitischen Sprecher_innen der SPD, Dr. Ina Czyborra, von Bündnis 90/Die Grünen, Eva Marie Plonske, von Die Linke, Tobias Schulze, von der CDU, Adrian Grasse, und von der FDP, Stefan Förster. Die Parteienvertreter_innen diskutierten die Konsequenzen der psychosozialen Krise für die Berliner Wissenschaftslandschaft und reflektierten dabei die Chancen und Hürden der Hochschulen im Akademisierungsprozess.
Moderiert von Journalist Jan-Martin Wiarda entwickelte sich eine lebhafte und differenzierte Diskussion über die Anliegen und die Zukunft der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Berlin.
Im Eingangsstatement von Rektorin Bettina Völter und in drei Impulsbeiträgen von Professorinnen der ASH Berlin wurden die Widersprüche der Rahmenbedingungen für Hochschulen im Akademisierungsprozess deutlich gemacht. So steigt zum einen die Zahl der “Missionen” und Aufgaben für Hochschulen Angewandter Wissenschaften: neben Lehre, sind hohe Erwartungen an angewandte Forschung, an Transfer als ”Third Mission”, an Nachwuchsförderung, Internationalisierung und diversitygerechte Hochschulorganisation hinzugekommen. Für neu entstehende oder wachsende Studiengänge wurde im letzten Hochschulvertrag jedoch nur mit 60 Prozent hauptamtlicher Lehre gerechnet, was bei forschungsstarken Hochschulen mit vielen Drittmittelerfolgen eine Ausstattung von zum Teil unter 50 Prozent professoraler Lehre ergibt. Der Wissenschaftsrat schlägt hingegen 80 Prozent vor. “Die Belastungen führen zu einem institutionellen Burn Out”, so Professorin Julia Franz, Vertreterin der Care-Initiative der ASH Berlin, in ihrem Impuls. Aus dem Publikum wurde deutlich gemacht, dass hiervon alle Mitgliedergruppen der Hochschulen betroffen sind, die im “Maschinenraum” des Hochschulbetriebes arbeiten.
Professorin Silke Brigitta Gahleitner sprach sich für das Promotionsrecht für Fachhochschulen in Berlin aus und machte als habilitierte Wissenschaftlerin die unverhältnismäßigen Anstrengungen deutlich, mit denen sie und ihre FH-Kolleg_innen bei der Betreuung von Promotionen konfrontiert sind, aufgrund der Steine die Universitäten Promovierenden und Betreuenden von HAW in den Weg legen. Universitätsprofessor_innen empfänden die Kooperation mit einer Fachhochschule oftmals als unattraktiv oder ließen innovative Fragestellungen aus dem Bereich der angewandten Wissenschaften nicht zu. So bleibe ein Widerspruch zwischen der Qualität und hoher Innovationskraft der Promotionsthemen aus HAW und der Möglichkeit, diese an Universitäten unterzubringen. “Wir würden uns ganz viele innovative Forschung und Potenzial verschenken”, so Ina Czyborra, hochschulpolitische Sprecherin der SPD auf dem Podium als eine Begründung für ihr Eintreten für die Verankerung des Promotionsrechts für Fachhochschulen im novellierten Berliner Hochschulgesetz. Sie plädierte dafür, die Zahl entfristeter Stellen an HAW weiter zu steigern und so unter anderem noch stärker ein “professionelles Wissenschaftsmanagement” an Hochschulen und Universitäten zu etablieren.
“Die Fachhochschulen können mehr als sie dürfen”, sagte Tobias Schulze, hochschulpolitischer Sprecher der Linken und betonte als wesentliche Differenz zwischen Universitäten und Fachhochschulen den Anwendungsbezug. Es ginge in der nächsten Legislatur um deren Ausstattung und Qualitätsentwicklung. Dies werde etwas kosten, dafür müsse anders verteilt werden. Außerdem gehe es um Konsolidierung der Hochschulen, in denen derzeit ein “unfassbarer Aufwuchs” geleistet und Verantwortung für den Standort übernommen werde, wie an der ASH Berlin. “Die Fächerkulturen müssen sich selbstbewusst entwickeln können, um auch die Professionen zu entwickeln”, so Eva Marie Plonske. Dafür bedürfe es einer höheren Sockelfinanzierung, des Neudenkens von Finanzierungsmodellen und der genauen Prüfung, wofür Geld gegeben werde und wie es verteilt werde. Besonderen Handlungsbedarf sahen Stefan Förster (FDP) und Adrian Grasse (CDU) bei den Fächern, die kein Pendant an Universitäten hätten. Adrian Grasse betonte seinerseits, dass es nicht um “Angleichung der Fachhochschulen an die Universitäten” gehen könne.
Professorin Rita Hansjürgens sprach für 14 Wissenschaftler_innen der ASH Berlin, die sich mit den psychosozialen Folgen von Covid-19 auseinandersetzen und dazu eine Stellungnahme verfassten. Ergebnis: die Folgen tragen insbesondere vulnerable Gruppen unserer Gesellschaft, die gravierenden Beeinträchtigungen auf Lebenswege werden nachhaltig wirken und zu weiterer gesellschaftlicher Ungleichheit führen. Rita Hansjürgens forderte, dass die Politik noch deutlicher die Expertise aus den SAGE-Wissenschaften und Berufsfelder bei Politikberatung und Entscheidungsfindungen einbeziehen müsste.
Im Kontrast dazu stehe auch die Finanzierung der SAGE-Hochschulen. Ein studentischer Beitrag fasste die Probleme so zusammen: “Es regnet rein in die Hochschule”, sagte Katja Blume, Mitglied im Kuratorium der ASH Berlin. Bis jetzt sei für sie unklar, wer die hohen Mietkosten als Interimslösung bis zum Bezug des Neubaus der ASH Berlin finanzieren würde, die Hochschule sei hier überaus belastet.
Während mehrere Diskutanten davor warnten, den “SAGE”-Begriff (gemeint sind die Disziplinen Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung) in Konkurrenz zum “MINT”-Begriff (Mathematik, Ingenieur- und Naturwissenschaften) zu setzen, machte Rektorin Bettina Völter deutlich, dass es nicht um Konkurrenz, sondern um die Sensibilisierung dafür gehe, dass die SAGE-Disziplinen ebenso bedeutsam für die Gesellschaft seien wie die MINT-Disziplinen, was sich auch in der Finanzierung ausdrücken müsse. Der SAGE-Begriff werde deshalb profiliert, um greifbarer zu machen, dass wir “über das soziale Gefüge unserer Gesellschaft anders nachdenken müssen”, so Völter.
Wenn laut einer an der ASH Berlin durchgeführten Untersuchung 40 Prozent der Pflegekräfte nach Abklingen der Pandemie ihren Beruf verlassen möchten, sei dies ein deutliches Warnzeichen. “Die Wertschätzung der sozialen, Bildungs- und Gesundheitsberufe hat viel mit deren Bezahlung zu tun, sie fängt aber bei der Akademisierung und bei der auskömmlichen Ausstattung der SAGE-Hochschulen an”, so die Rektorin in ihrem Abschlussstatement. Wenn es in diesen Maschinenraum hinein regne, stehe dies in eklatantem Widerspruch zur Systemrelevanz und zur gesellschaftsweit geforderten Wertschätzung und Aufwertung der Sozialen, Bildungs- und Gesundheitsberufe.
Eine Aufzeichnung der Veranstaltung kann hier abgerufen werden: https://www.youtube.com/watch?v=XDXEDWFHdpQ
Es diskutierten:
- Dr. Ina Czyborra (SPD)
- Tobias Schulze (Die Linke)
- Eva Marie Plonske (Bündnis 90/Die Grünen)
- Stefan Förster (FDP)
- Adrian Grasse (CDU)
Mit dem von der ASH Berlin entwickelten Format „Hochschulpolitischer Wahlcheck“ möchte die Hochschule Akteur_innen und Interessierten ein Forum bieten, um sich über Positionen und Programme der Parteien zu komplexen Sachverhalten, wie der grundständigen Finanzierung der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Berlin, ihren Arbeits- und Lehrbedingungen sowie die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschungsexpertise – gerade im SAGE-Bereich und nicht nur vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie – zu informieren.