Soziale Arbeit „Uni im Vollzug“: Inhaftierter Studierender leitet ASH-Seminar

Sein Vortrag thematisiert die Schnittstelle Strafrecht und Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Jugendkriminalität

Dr. Julian Knop, Gastprofessor für Kriminologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Vorsitzender des Vereins Tatort Zukunft e. V., veranstaltet im Sommersemester 2023 an der ASH Berlin ein Seminar zum Thema „Kriminologie und Soziale Arbeit - Mit dem Schwerpunkt Jugendkriminalität“. Heute war im Rahmen des Programms „Uni im Vollzug“ erstmals ein inhaftierter Student in Präsenz zu Gast an der ASH Berlin und gestaltete eine Seminareinheit:  Amir* hat während seiner Haftzeit das Erste Juristische Staatsexamen erfolgreich absolviert und studiert derzeit im Master Rechtswissenschaften an der Fernuniversität Hagen. Er ist in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel inhaftiert. Für das Seminar an der ASH Berlin wurde ihm ein begleiteter Ausgang mit Sozialarbeiter_innen der JVA Tegel gewährt - es war sein erster Ausgang seit Jahren. 

Die Jugendstrafanstalt ist ein eigener Kosmos

Sein Vortrag an der Schnittstelle Strafrecht und Soziale Arbeit ergänzte juristische Perspektiven auf Strafzwecke und Strafmündigkeit durch eigenen Erfahrungen aus dem (Jugend-)Strafvollzug. „Die Jugendstrafanstalt ist ein eigener Kosmos. Da geht es in der Regel ums Überleben – also mit den begrenzten Ressourcen, die man hat, gut durch den Alltag zu kommen. Damit ist auch ein gewisses Kräftemessen verbunden. Aufgrund der Alterspanne in der man sich befindet, verfestigt sich die Rolle des ‚inhaftierten Jugendlichen‘ dann auch im Charakter, was nachhaltige Schäden verursacht.“

Im Seminar wurde auch über die nach den Ereignissen in Freudenberg (NRW) und Wunsiedel (Bayern) laut gewordene Forderung gesprochen, auch Kinder unter 14 Jahren strafrechtlich zu belangen. Über diese Forderung wurde auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen diskutiert, die Amir als junger Mensch während seiner mehrjährigen Jugendstrafe in einem Jugendgefängnis gemacht hat. Amir: „Die politische Debatte um Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze trifft den Punkt nicht, denn eigentlich müsste sie hauptsächlich Strafzwecke und die Sinnhaftigkeit von Jugendstrafen in den Blick nehmen.” Die Studierenden fügten hinzu, dass der Fokus hier auch auf die Reform von Hilfesystemen gelegt werden müsse.

Expertise einbinden, Resozialisierung fördern

Über den Grund der Einladung sagt Seminarleiter Julian Knop: „Wir möchten zum einen Menschen mit Kriminalitäts- und Hafterfahrung und deren Expertise in unseren Kurs einbinden. Zum anderen ist es wissenschaftlich gut belegt, dass Bildungsmaßnahmen während der Haft Resozialisierung fördern. Da gegenwärtig inhaftierte Studierende wenig Kontakt zur Außenwelt haben und sehr isoliert studieren, möchten wir einen Austausch zwischen inhaftierten und in Freiheit lebenden Studierenden über die Gefängnismauer hinweg ermöglichen und dadurch auch Amir in seinem Bildungsweg während der Haft unterstützen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich im Rahmen des Besuches auch für das Vertrauen und die Unterstützung der Mitarbeitenden der JVA Tegel bedanken.”

Gemeinsam mit Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn von der FU Berlin, Prof. Dr. Heinz Cornel von der ASH Berlin und seinen Kolleg_innen von Tatort Zukunft e.V. gründete Dr. Julian Knop in Kooperation mit der Berliner Senatsverwaltung für Justiz und der JVA Tegel 2018 die sogenannte „Uni im Vollzug“, bei der ASH-Studierende der Sozialen Arbeit gemeinsam mit gefangenen Studierenden der JVA Tegel in der Justizvollzugsanstalt Tegel ein gemeinsames Seminar besuchen. Das Projekt ist bundesweit einzigartig und auch die Idee, inhaftierte Studierende an eine Hochschule einzuladen, ist wahrscheinlich einzigartig. Nach Recherchen des Vereins Tatort Zukunft e. V. studieren in Deutschland etwa 140 Gefangene an der Fernuniversität Hagen. Dem Studium in Haft fehlt es an Austausch mit anderen Studierenden und Dozent_innen, an Gruppenarbeiten und lebhaften Diskussionen, an Zugang zum Internet sowie der Möglichkeit, eigene Ideen zu präsentieren. Dies sind zentrale und geradezu selbstverständliche Elemente eines Studiums außerhalb des Justizvollzugs, gehören im Kontext Gefängnis jedoch meist nicht zur Bildungserfahrung dazu. Die „Uni im Vollzug“ ist eine Antwort auf dieses Problem. Trotz der widrigen Umstände, die ein Fernstudium mit sich bringt, ist das Studium im Gefängnis für einige Menschen ein wichtiger Baustein im Prozess der Resozialisierung, indem es Perspektiven auf das Leben verändern und Jobchancen nach der Entlassung verbessern kann.

Es ist geplant, im Wintersemester 2023/24 wieder Studierende der ASH Berlin in die „Uni im Vollzug“ einzubinden und ein Seminar in der JVA Tegel stattfinden zu lassen. 

Interviewmöglichkeiten
Für Journalist_innen besteht die Möglichkeit ein Interview mit Dr. Julian Knop, dem Initiator der „Uni im Vollzug“ zu führen. Bei Interesse kontaktieren Sie bitte das Team der ASH-Hochschulkommunikation unter: hochschulkommunikation@ avoid-unrequested-mailsash-berlin.eu

 

 *Hinweis: Name wurde von der Redaktion geändert