Insgesamt existieren im internationalen Vergleich drei sehr unterschiedliche Methoden, mit denen das Ausmaß von Straßenwohnungslosigkeit erfasst werden soll. Die in Berlin angewandte Methode der „Straßenzählung“ beruht auf einem Modell, das in New York entwickelt wurde und bereits in mehreren auch europäischen Metropolen umgesetzt wurde und wird. In einer Nacht während eines relativ kurzen Zeitraums werden – wie in Berlin – die Menschen gezählt, die sichtbar im öffentlich zugänglichen Raum ohne Unterkunft sind. Eine andere Methode ist die Befragung dieser Gruppe in den Einrichtungen und Angeboten der niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe (wie bspw. in Hamburg 2018 und 2019). Die dritte Methode ist eine Auswertung bereits vorhandener Dokumentationen und Erhebungen.
Die von mir koordinierte AG Wohnungsnotfallstatistik hat für Berlin ein kombiniertes Vorgehen empfohlen: Eine Zählung auf der Straße wie am 29.1.2020 erfolgt und eine Stichtagserfassung über die niedrigschwellige Wohnungslosenhilfe. Letztere soll die noch zu erstellende Unterbringungsstatistik ergänzen. Damit können die Vorteile beider Verfahren berücksichtigt werden: Bei der Zählung auf der Straße werden auch diejenigen erfasst, die keinerlei (aktuelle) Kontakte zum Hilfesystem haben. Bei der Befragung in den Einrichtungen werden auch Couchsurfer sowie Menschen, die bspw. in Kellern und auf Dachböden schlafen, gezählt.
Die „tatsächliche“ Anzahl von Menschen, die sich ohne Unterkunft auf der Straße oder in ähnlich prekären Situationen befinden, kann allerdings auf keinem der bisher bekannten Wege - auch nicht in der Kombination von Verfahren - ermittelt werden: Das Ausmaß „verdeckter Wohnungslosigkeit“ kann ohne Verletzung der Datenschutzbestimmungen sowie des Rechts auf Selbstbestimmung nicht erfasst werden. Dies darf aber nicht dazu führen, auf der Straße lebende wohnungslose Menschen aus der Wohnungsnotfallstatistik auszuschließen und sie damit „unsichtbar“ zu machen.
Bei der ersten Straßenzählung in Berlin wurde neben der reinen Zählung bewusst nur ein sogenannter „Kerndatensatz“ für die Befragung genutzt, der für alle Teile der Wohnungsnotfallstatistik als Grundlage dienen soll. Damit soll erstens eine Vergleichbarkeit mit den noch folgenden Erhebungen möglich sein. Zweitens ist damit wahrscheinlicher, eine repräsentative Stichprobe aller in dieser Nacht gezählten Menschen zu erhalten. Die Befragung fand auf freiwilliger Basis statt, dauerte in der Regel nur
2-3 Minuten und schloss niemanden aufgrund von Sprachbarrieren aus. Der kurze Fragebogen war in 14 Sprachen übersetzt und zusätzlich über Piktogramme lesbar. Internationale Vergleiche zeigen, dass eine Kombination der Zählung mit einer um-fassenden sozialwissenschaftlichen Studie nur einen Bruchteil der Gezählten erreicht, die Daten also nicht repräsentativ sind. Qualitative Studien sind allerdings dringend erforderlich, um die Bedürfnisse und Hilfebedarfe der in Berlin auf der Straße lebenden Menschen zu erfassen.
Nach allen mir bisher bekannten Informationen aus den Freiwilligen-Teams ist die Zählung nach den Regeln sozialwissenschaftlicher Forschung erfolgreich durchgeführt worden: Es kam zu keinen systematischen Verzerrungen (Beispiele hierfür wären: Frauen haben durchgängig die Auskunft verweigert, Menschen ohne Deutschkenntnisse konnten nicht befragt werden o. Ä.). Auch die ethischen Richtlinien wie Anonymität, Freiwilligkeit, die Möglichkeit des Einwilligungswiderrufs etc. wurden laut den bisherigen Rückmeldungen eingehalten und der schriftlich vorliegende „Verhaltenskodex“ beachtet. Klar ist: Wir konnten mit der Zählung nur die sichtbar im öffentlich zugänglichen Raum lebenden Menschen an einem Stichtag erfassen. Entsprechend müssen diese Daten interpretiert werden. Dies ist u. a. im Rahmen einer großen Fachtagung geplant.
Eine Hochrechnung auf die „echte“ Anzahl ist – wie auch bei allen anderen oben skizzierten Verfahren – nicht möglich, da keine sogenannte Grundgesamtheit (d.h. 100 % der Zielgruppe) zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt ist – und auch nicht bekannt sein kann. Alle Zahlen oder Prozentanteile, die nun – mit welcher Intention und von wem auch immer - auf die am 29.1.2020 erfasste Anzahl „aufgeschlagen“ werden, entbehren also jeder wissenschaftlichen Grundlage. Auch subjektive Einschätzungen, wie viele Menschen sich womöglich versteckt haben, um nicht gezählt zu werden, sind sozialwissenschaftlich nicht haltbar. Damit müssen leider alle Beteiligten leben.