Gestern ernannte die Rektorin der ASH Berlin, Prof. Dr. Bettina Völter, auf Vorschlag des Fachbereichs Soziale Arbeit, Dr. Sigrid Arnade zur Honorarprofessorin. Gerahmt wurde dieser Akt durch ein Programm zum Thema „Sichtbar ja - aber dann? Behinderte Frauen und die UN-Behindertenrechtskonvention“, gestaltet von Sigrid Arnade gemeinsam mit langjährigen Mitstreiter_innen wie Prof. Dr. Theresia Degener, Brigitte Faber, Sabine Häfner, Dinah Radtke und Martina Puschke.
Dr. Sigrid Arnade, geb. 1956, setzt sich seit den 1980er Jahren für die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ein. Sie ist eine herausragende Persönlichkeit, die für Selbstermächtigung und Selbstorganisation steht.
Ausgebildet und promoviert als Tierärztin mit einem Aufbaustudium Ökologie, setzte sie sich in den 1980er Jahren für artgerechte Tierhaltung und ökologische Landwirtschaft ein und engagierte sich in der Friedensbewegung. Als freie Journalistin, Dozentin und Projektleiterin arbeitete sie ab den 1980ern für die rechtliche Gleichstellung behinderter Frauen und barrierefreies Naturerleben. Sie war Mitbegründerin der Stiftung LEBENSNERV (Stiftung zur Förderung der psychosomatischen Multiple-Sklerose-Forschung) 1991, des Netzwerks behinderter Frauen in Berlin e.V. 1995, des Netzwerks ARTIKEL 3 (Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.) 1996 und von Weibernetz – Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung e.V. (1998). Als Vertreterin von Weibernetz nahm Dr. Sigrid Arnade von 1999 bis 2009 im Deutschen Behindertenrat und 2005/2006 für den Deutschen Behindertenrat an den Verhandlungen zur UN-BRK in New York teil. 2008 bis 2009 war sie Koordinatorin der Kampagne „alle inklusive! Die neue UN-Konvention“ bei der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Als Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) arbeitete sie von 2010 bis 2019 an der Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes und zum Bundesteilhabegesetz.
Dr. Sigrid Arnade wurde für ihr langjähriges Engagement mehrfach ausgezeichnet: 2004 mit dem Binding-Preis (für Natur- und Umweltschutz), ebenfalls 2004 als Vorkämpferin für die Rechte behinderter Frauen mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande, 2010 dann mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Das jahrzehntelange Engagement Dr. Sigrid Arnades für die Belange behinderter Frauen ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich:
- Es ist ein Beispiel politischer Interessens- und Selbstvertretung, ein Beispiel für das erfolgreiche Einfordern von Partizipation durch soziale Bewegungen und damit auch Korrektiv einer paternalistischen Fürsorgeorientierung.
- Es steht für eine kritische Diversitätsorientierung, die Gender und Ableismus in ihrer Durchdringung fokussiert.
- Es beinhaltet eine Verknüpfung umfangreicher fachlicher und institutioneller Wissensbestände (erworben in internationalen und staatlichen Institutionen) mit den (vielfach übergangenen) Perspektiven betroffener Frauen und Mädchen und zeigt, dass eine solche Verknüpfung maßgeblich für eine emanzipatorische Gestaltung des Sozialen ist.
Das Programm zur Verleihung der Honorarprofessur brachte zentrale Akteur_innen wieder zusammen, die 2005 für den Deutschen Behindertenrat an den Verhandlungen zur UN-BRK in New York teilgenommen hatten. Nach der Einführung durch Prof. Dr. Sigrid Arnade „Von unsichtbaren Objekten zu Menschenrechtssubjekten“ moderierte Martina Puschke eine Podiumsdiskussion, in der sich Sigrid Arnade, Theresia Degener, Dinah Radtke, Sabine Häfner und Brigitte Faber gemeinsam an den gemeinsamen Kampf erinnerten, Frauenrechte in die UN-Behindertenrechtskonvention zu integrieren, was zunächst kaum aussichtsreich erschien.
Im gemeinsamen Erinnern und Erzählen gab es spannende Rückblicke auf Herausforderungen des Agierens auf internationalem Parkett und in verschiedenen Rollen, auf die Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit und daraus gewonnene Einsichten in die Veränderbarkeit politischer Strukturen. Im kollektiven Gedächtnis sind Erfahrungen mit der Artikulation von Erfahrungen, der Adressierung politischer Forderungen und der Gründung von Organisationen ebenso aufgehoben wie der Umgang mit Kontroversen.
Auch in den folgenden Vorträgen von Brigitte Faber und Martina Puschke wurde ausgelotet, was erfolgreich erstritten wurde und wo behinderte Frauen weiter wesentlich benachteiligt sind. So bewertete Brigitte Faber den Stand der Umsetzung der UN-BRK im Hinblick auf Artikel 25 (gesundheitliche Versorgung) als schlecht, was sich etwa an der sehr niedrigen Zahl barrierefreier Gynäkologiepraxen in Deutschland zeigt. Martina Puschke zeichnete die Entwicklung der Umsetzung des Gewaltschutzes Artikel 16 der UN-BRK nach.
Zum Ende der Veranstaltung gab Prof. Dr. Sigrid Arnade eine Bilanz der gemeinsamen Geschichte mit auf den Weg („Mit langem Atem und brennender Ungeduld“), indem sie Elemente politischer Arbeit und Erfolgsfaktoren für gelingende Kooperationen benannte: „Immer dranbleiben, nachhaken, niemals aufgeben“. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Erfahrungswissens sei ein lohnendes Forschungsfeld für die Disability Studies.