von Bettina Völter
Am 8. Januar starb Barbara Köhler nach längerer schwerer Krankheit. Uns hat eine Frau verlassen, die Mut hatte, Leidenschaft, Standing, Klarheit und viel Sinn für Humor. Sie nahm den Zauber der Sprache, der Natur und der menschlichen Begegnung im Detail wahr und schuf ihrerseits neue Blickrichtungen, Akustik und Empfindung. Oft hing an ihren Emails ein Foto aus ihrem Garten, eine Zaubernuss zum Beispiel, liebevoll eingefangen von „der köhlerin“, wie sie sich manchmal nannte. Man konnte wunderbar mit ihr über den tieferliegenden Sinn von Kunst im öffentlichen Raum, das Bild von Frauen in Gesellschaft und Sprache, über Kunst-, Literatur- und Medienbetrieb debattieren, Gedanken entfalten, in einem Gespräch in produktiver Spannung bleiben. Sie blieb notwendig widerspenstig und ließ sich niemals „eingemeinden“, war aber offen für den gemeinsamen Prozess, der am Ende eine Lösung hervorbrachte.
Die Alice Salomon Hochschule verdankt Barbara Köhler die aktuelle Gestaltung ihrer Südfassade. Sie verdankt ihr auch einen Lernweg, einen Fingerzeig mit Augenzwinkern, einen Vorschlag für ein Geschenk mit Auflagen, Solidarität im Blitzlichtgewitter, Beistand in einer Argumentation und im Handeln, das möglich machte, die im Grundgesetz in einem Artikel gemeinsam verbriefte Freiheit der Kunst und die Freiheit der Wissenschaft, Lehre und Forschung, letztlich die Freiheit einer Hochschule nicht gegeneinander auszuspielen, sondern beide in produktiver Spannung zueinander zu verwirklichen.
Als im Sommer 2017 die ASH Berlin bundesweit und international heftigst in die Schlagzeilen geraten war, weil sie sich auf Anfrage von Studierenden, Professor_innen und anderen Mitgliedern der Hochschule sowie auf Beschluss ihres Akademischen Senates seit Sommer 2016 erlaubt hatte, in Frage zu stellen, ob die Gestaltung ihrer Südfassade, der ersten öffentlich sichtbaren Wand der Hochschule, eigentlich zu dem passte, was in Lehre und Forschung innerhalb der Hochschule vertreten wird, begriff Barbara Köhler, dass die Hochschulmitglieder oder ihre Studierenden keine Attacke gegen die Kunst fuhren. Sie konnte nachvollziehen, dass die Gremien der Hochschule es befremdlich fanden, dass sie über die Entscheidung der damaligen Hochschulleitung, die Fassade 2011 mit dem Gedicht „avenidas“ (1951) von Eugen Gomringer zu gestalten, weder informiert wurden noch dabei beteiligt waren. Sie unterstützte den demokratischen Entscheidungsprozess, mit der Option, die damalige Entscheidung nachträglich zu legitimieren oder eine neue Fassadengestaltung anzustreben. Sie hielt aber den von der ASH Berlin zur Lösungsfindung ausgeschriebenen Wettbewerb für nicht optimal geeignet, um über eine künstlerische Gestaltung zu entscheiden.
Die Alice Salomon Hochschule durfte Barbara Köhler bei diesem Vorgang näher kennenlernen und als Mitdenkende erleben. Die Lyrikerin hatte im Januar 2017 den Alice-Salomon-Poetik-Preis erhalten, der damals zum 11. Mal verliehen worden war. Sie hatte in ihrer Dankesrede bei der Preisverleihung angedeutet, dass sie bereit wäre, gemeinsam mit der Hochschule eine Lösung für ihre Auseinandersetzung mit ihrer Südfassade zu finden. Daraufhin lud die Hochschulleitung sie – wie auch Eugen Gomringer – ein, über eine produktive Lösung des Dilemmas nachzudenken.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte Barbara Köhler am 25.9.2017 folgenden Text zur Debatte rund um die Gestaltung der Fassade mit dem Gedicht „avenidas“:
„Es ist – vor Ort – eben nicht bloß ein Gedicht, kein abstraktes Kunstwerk im Museum, es ist auch keine irgendwie heilige Schrift: es ist ein Text im öffentlichen Raum. Und darauf wurde eigentlich ganz zivilisiert und demokratisch reagiert; niemand hat mit Farbbeuteln geschmissen, niemand hat nachts an die letzten beiden Wörter ein a geklebt oder etwa eine Überschrift wie "Blumen für die Trümmerfrauen" dazu gesprayt (der Text ist von 1951, auch das wär eine mögliche Lesart), niemand hat diesem Text an der Wand etwas angetan. Er wurde respektiert, es wurde diskutiert, über einen langen Zeitraum, Wörter zu Wörtern, und jetzt gibt es eine Ausschreibung der Hochschule, die auch den Erhalt des Textes explizit als Option einschließt; es müsste sich dafür halt nur jemand finden, der oder die überzeugend genug dahintersteht. Ich glaube, das hat mit Demokratie zu tun. Bedenkenswert finde ich weiterhin: Auch wenn ich das Gedicht als ein Kunstwerk an der Wand betrachte, ist es als solches ja nicht Ergebnis einer Kunst-am-Bau-Ausschreibung mit demokratisch legitimierter Jurierung (was die Causa durchaus ändern würde), sondern ein Geschenk – und mit Geschenken dürfen Beschenkte schon verfahren, zumal nach knapp sieben Jahren, die der Text nun an dieser Wand verbracht hat. Wie damit verfahren werden soll, genau das wird im Moment diskutiert, jedenfalls an der Hochschule. Das ist nicht der Untergang des Abendlandes, auch kein Angriff auf die Kunstfreiheit, keine Zensur und keine Barbarei. Es ist die Realisierung eines Gedichts als das, was es an dieser Stelle sein kann, vielleicht sogar möchte: keine harmlose Deko, sondern ein öffentlicher Text.“
Ich kann mich gut an Barbara Köhlers Anruf erinnern, ich stand während einer Wanderung auf einem Berg, und sie fragte, was ich wohl von folgendem Vorschlag halten würde: Sie könne der ASH Berlin – genauso wie 2011 Eugen Gomringer – ein Gedicht mit Fassadengestaltung schenken, allerdings ohne, dass die Hochschule wisse, welches Gedicht genau sie schenken würde, und verbunden mit drei Auflagen:
Auflage 1: Wenn wir grundsätzlich annehmen, dass sie als Autorin uns ein Gedicht schenkt, dann darf dieses (wie „avenidas“) höchstens 7 Jahre an der Fassade bleiben.
Auflage 2: Der Vorschlag als solcher muss vorher mit den Hochschulmitgliedern, insbesondere mit den Studierenden, besprochen werden.
Auflage 3: Der Vorschlag wird neben das von der Hochschule damals geplante Abstimmungsverfahren zum Gestaltungswettbewerb gesetzt, „als etwas“, so Barbara Köhler, „das neben dieses demokratische Procedere auch noch einmal autonom die Kunst setzt. Auf die Zukunft setzt, die Zukunft der Poesie und die Zukunft der Hochschule und des Alice Salomon Poetik Preises setzt – und auf eine produktive Auseinandersetzung.“
Später schrieb sie mir:
„dieser vorschlag ist gemacht worden, um eine möglichkeit zur debatte zu stellen, dieses muss-bleiben-oder-muss-weg-dilemma in eine richtung zu wenden, die jenseits der konfrontation produktiv werden kann. es wird damit auch die entscheidung von 2011, den text eines preisträgers an diese stelle zu setzen, nicht negiert. also auch das bekenntnis der hochschule, sich (nicht nur) mit dem preis zu einer wichtig- bzw notwendigkeit von kunst und literatur zu verhalten. und dafür auch öffentlich einzustehen. es ist ein vorschlag, dafür auch weiterhin und in der tat einzustehen, indem man sich nämlich auf unvorhersehbares, risiko und auseinandersetzung einlässt – mit anderen worten: auf die autonomie der kunst. die man auszeichnet und die immer noch etwas anderes ist, als sich mit klicks, likes und über einschaltquoten ermitteln lässt. daher möchte ich eigentlich auch nicht, dass er als ein fassadengestaltungsvorschlag in konkurrenz zu anderen betrachtet wird. werten Sie den wettbewerb aus, das ist völlig okay; aber dann – und dafür ist der vorschlag gemacht – sollte dessen ergebnis nocheinmal abgewogen werden: ob die hochschule nicht doch etwas anderes möchte. etwas, das eine lebendige auseinandersetzung weitertragen könnte. ich weiß nicht, vielleicht sind die wettbewerbsergebnisse ja auch in diesem sinne, ich kann nicht hellsehn, ich will’s nicht ausschließen. aber abgewogen werden sollte da. das wär eigentlich, was ich dazu zu sagen hätte. und ja: es ist ein geschenk; klar kann man geschenke auch ablehnen.“
Wir haben ihr Geschenk inmitten einer gründlichen Befassung mit der Fassadendebatte und ihren Argumenten sowie nach einem demokratischen Entscheidungsprozess angenommen. Die Hochschule hat dabei ein Verfahren entwickelt, das zukünftig allen kommenden Preisträger_innen des Alice Salomon Poetik Preises die Chance gibt, eine Fassadengestaltung vorzuschlagen. Es wird einen regelmäßigen Wechsel der Fassadengestaltung geben. Das Ergebnis der Debatte, die Barbara Köhler als Künstlerin produktiv begleitete, ist ein konsequenter und regelmäßiger Beitrag der Hochschule zu Kunst im öffentlichen Raum.
Wir erinnern uns sehr dankbar an Barbara Köhler, ihre Streitlust und ihren Feinsinn. Es ist ungewöhnlich, dass eine gesamte Hochschule als Organisation von einer Künstlerin etwas nachhaltig lernt. Barbara Köhler hatte, dank der Unbestechlichkeit ihres Denkens und ihrer künstlerischen und persönlichen Auseinandersetzung mit Macht, Frauenfragen und Sprache, trotz ihrer bereits heraufziehenden Krankheit die Kraft, den Einfallsreichtum und die Chuzpe, wegweisend zu sein.
Wir sind unendlich dankbar dafür. Sie bleibt in unserer persönlichen und kollektiven Erinnerung. Ihren Angehörigen gehört unser Mitgefühl.
Barbara Köhler, geboren 1959 in der Nähe der sächsischen Ortschaft Amerika, lebte als freie Schriftstellerin in Duisburg. Nach ihrem Studium am Leipziger Institut für Literatur Johannes R. Becher arbeitete sie als freie Autorin in Chemnitz und veröffentlichte 1991 ihren ersten Gedichtband „Deutsches Roulette“. Seitdem schrieb sie Texte für Kunstzeitschriften und Kataloge, Gedichte, Essays und Übersetzungen. Auch eigene Textinstallationen, Schriftbilder, Audio-Arbeiten sowie temporäre und ständige Arbeiten für öffentlichen Raum und private Gärten zählen zu ihrem umfassenden Werk. Die Kunststiftung NRW ernannte Barbara Köhler 2012 zur Thomas-Kling-Poetikdozentin und veröffentlichte drei Jahre später ihren Gedichtband „Istanbul, zusehends“, für den sie 2016 mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Zu ihren weiteren Werken zählen „36 Ansichten des Berges Gorwetsch“ (2013), „Neufundland“ (2012), „Niemands Frau. Gesänge zur Odyssee“ (2007) und „Wittgensteins Nichte“ (1999).
Die Jury des Alice Salomon Poetik Preises würdigte Barbara Köhler als „Sprachkünstlerin“, die „mit empathischer Neugier, tief lotender Sprachlust, in Bildern, die eine Unschuld des Blickes hinterfragen (…) eine Kunst schafft, die sich konsequent unserer Zeit stellt. (…)
Sie verfasst Sprachlandschaften und erkundet in ihnen die menschliche Existenz. Ihre Texte sind hochmusikalische Partituren. Ihre Bilder sind so genau wir ihr Blick. (…) Bei ihr wird Polizistanbul zu Resistanbul und schließlich zu Artistanbul – eine Beschwörung der Kunstfreiheit jenseits jeglicher politischer, sozialer oder ästhetischer Doktrin.“