Forschung, Hochschulleben #4GenderStudies: Intersektionale sexuelle Bildung – machtkritisch, dekonstruktiv und dekolonialisierend

Interview mit Prof. Dr. Jutta Hartmann, Mart Busche und Dr. Yener Bayramoğlu.

Im kommenden Jahr erscheint das „Handbuch Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter“. Drei Wissenschaftler_innen der ASH Berlin, Prof. Dr. Jutta Hartmann, Mart Busche und Dr. Yener Bayramoğlu, schrieben dafür einen Beitrag zum Thema "Intersektionale sexuelle Bildung".

Aus einer queeren Denktradition kommend, geht es ihnen darum, sexualpädagogisches Denken am Kreuzungspunkt unterschiedlicher Machtverhältnisse kritisch zu erweitern. Dabei wollen die Autor_innen auch für ein fragwürdiges koloniales Erbe im Nachdenken über Sexualität sensibilisieren und zugleich anregen, sich mit Dekolonisierung und postkolonialer Theorie auseinanderzusetzen. Im Interview geben die drei Autor_innen einen Einblick vorab.

Frage: Warum soll diese Auseinandersetzung ausgerechnet in der sexuellen Bildung erfolgen?

YB: Bildung hat aus postkolonialer Perspektive immer eine zwiespältige Bedeutung. Sie hat das Potential, als ein Werkzeug zur (alternativen) Welterschließung, zur Bekämpfung von Unwissen und zum Empowerment zu dienen. Doch funktioniert sie gleichzeitig allzu oft als Instrument zur Vermittlung eines verzerrten Wissens über die Welt, das dem Globalen Norden eine zentrale Bedeutung zuschreibt. Wollen wir entsprechendes Wissen dezentrieren und ungleichheitsgenerierende Praktiken unterbrechen, schließt dies eine dekolonialisierende Perspektive auf Sexualität und Sexualpädagogik notwendig mit ein.

Frage: Das heißt zum Beispiel konkret?

MB: Körper, insbesondere nichtweiße, weiblich und queer positionierte Körper sind durch die hegemoniale Geschichtsschreibung und Prozesse der Kolonialisierung auf vielfältige Weisen reguliert, exotisiert, sexualisiert und auf andere Weisen beschränkt worden. Als Gegenbewegung kann z.B. über Körperarbeit, Tanz und (Selbst)Reflexion erschlossen werden, wo die eigenen Körperzonen und -gefühle liegen, die marginalisiert, beschämt, unsichtbar gemacht oder ausgebeutet wurden. Ein anderes Verhältnis dazu kann entwickelt und erprobt werden, um sich an eine Befreiung dieser Körper(zonen) anzunähern. Bestandteile sexueller Bildung können weiter sein, über die eine Auseinandersetzung mit seinen von außen getätigten Zuschreibungen und seinen tatsächlichen sexuellen Vermögen einen neuen Zugang zum eigenen Körper zu entwickeln. Jugendliche, die als be_hindert markiert werden, können z. B. Wissen über verbale und nichtverbale Konsensmöglichkeiten vermittelt bekommen und Erwachsene eine sogenannte ‚Pornokompetenz‘ entwickeln, bei der sowohl rassisierende wie auch empowernde Aspekte von Pornos berücksichtigt werden.

Frage: Wie definieren Sie intersektionale sexuelle Bildung?

YB: Wir haben gemeinsam folgende Definition erarbeitet: Intersektionale sexuelle Bildung lässt sich als eine Bildung definieren, die im Feld der Sexualität Machtverhältnisse an der Schnittstelle verschiedener sozial bzw. kolonial verfasster Differenzkategorien rekonstruiert, irritiert, analysiert, in Frage stellt und zu verschieben sucht. Ein Ziel ist es, Körper und Subjektivitäten, die bislang marginalisiert sind, sichtbar zu machen sowie sexuelle Vielfältigkeit zu ermöglichen.

Frage: Auf welches Verständnis von Sexualität greifen Sie dabei zurück?

JH: Intersektionale sexuelle Bildung folgt einem konstruktivistischen Verständnis von Sexualität, d. h. sie geht davon aus, dass menschliche Sexualität keinem biologischen Lernprogramm folgt, sondern gesellschaftlich-kulturell vermittelt ist. Weiter ist sie dekonstruktiv orientiert, d. h. daran, vervielfältigend den Raum zwischen hierarchisierenden Dualitäten zu öffnen. Beispielsweise sind in westlichen Gesellschaften ein Coming out und die klare Zuordnung zu den Kategorien ‚schwul‘ oder ‚lesbisch‘ zu Bestandteilen einer anerkannten homosexuellen Lebensweise geworden. Viele andere Weisen auf eine sehr viel fluidere Art queer zu leben kommen demgegenüber nicht so häufig in den Blick. Das versucht intersektionale sexuelle Bildung zu ändern und folgt dabei identitätskritisch einem entnaturalisierendem wie entessentialisierendem Verständnis von Sexualität.

Frage: Auf welche Medien wird dabei zurückgegriffen?

MB: Die Medien sexueller Bildung sind vielfältig: Viele Erwachsene nutzen Pornografie kreativ, um sich von dem Potential, grundlegende Transformationen zu beleben und sich von den vielfältigen Vorstellungen, wie wir mit unseren Körpern handeln und wie wir sein können, inspirieren zu lassen. Dies korrespondiert mit Grundsätzen einer sexuellen Bildung, die einer sexualitätsfreundlichen, sexpositiven und ermöglichenden Perspektive folgt. Dabei wird Porno als potentiell widerständige kunstvolle Praxis betrachtet, mit der gegen Rassismus, Heterosexismus und patriarchale Verhältnisse vorgegangen werden kann.

JH: Es lässt sich auch mit autosoziografischer Literatur arbeiten. Bücher wie die von Annie Ernaux, Didier Eribon oder Édouard Louis fokussieren anders als klassische Bildungsromane auf das komplexe Zusammenwirken von gesellschaftlichen Einflüssen, vorherrschenden Diskursen, symbolischen Ordnungen und persönlichem Handeln. Intersektional wird dabei die eigene Lebensgeschichte hinsichtlich der Verschränkung von Klassenherkunft und Sexualität rekonstruiert. Dies kann Leser_innen für Praktiken sensibilisieren, mit denen – ggf. auch die eigene – Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen reguliert wird. Und sie kann zugleich diejenigen anregen, die in einer gesellschaftlichen Position der Privilegierten stehen, genau diese Situierung zu erkennen und sich selbstkritisch zu fragen, wie sich diese auch in ihrem sexuellen Gewordensein widerspiegelt und wie sie an einer Umverteilung ihrer Privilegien – auch im Bereich der Sexualität – arbeiten können.

YB: Im Artikel gehen wir weiter auf politische Aktionsformen und Netzwerke als eine Möglichkeit ein, um Communities, Ressourcen, Wissen und alternative Narrative bereitzustellen, welche marginalisierte Lebensweisen sichtbar macht und unterstützt, beispielsweise hinsichtlich ‚reproductive justice‘ oder AIDS-Prävention.

Mit all diesen Formaten aus (non-)formaler wie informeller Bildung können normative Körper- und Sexualitätsmodelle, kohärente Identitäten und vorherrschende Privilegien analysiert, kritisiert und kreativ umgearbeitet sowie neue Möglichkeitsräume für alle geschaffen werden.



Das Interview erscheint im Rahmen der #4GenderStudies-Week. Dabei veröffentlicht die ASH Berlin eine Woche lang Beiträge auf sämtlichen Kanälen anlässlich des Wissenschaftstags #4GendersStudies – unterstützt von der Arbeitsgemeinschaft der Frauen- und Geschlechterforschungseinrichtungen Berliner Hochschulen (afg). Ziel ist es einen forschungsbasierten Einblick in Arbeiten aus dem Feld der Geschlechterforschung zu geben.

Mehr Informationen zur #4GenderStudies-Week finden Sie auf unserer Website, im Flyer unten oder überall unter dem oben genannten Hashtag.